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Franz Werfel und das Weltleid

EA 19/09a

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Author Eberhard Arnold
Date February 01, 1919
Document Id 20125970_25_S
Available Transcriptions German

Franz Werfel und das Weltleid

[Arnold, Eberhard and Emmy papers - Df.]

EA 19/9a

Franz Werfel und das Weltleid

Von Dr. Eberhard Arnold

Unter den heutigen Dichtern ist vielleicht Franz Werfel derjenige, der für das Zeitempfinden den entsprechendsten und verständlichsten Ausdruck gefunden hat. Es ist sein unsagbar tiefes Weltgefühl und sein unendliches Lebensgefühl unstillbaren Leids und unzerstörter Freude zugleich, was ihn zu dem Liebling der Jüngsten gemacht hat. Gewiß ist es auch die Erweiterung der dichterischen Gegenstandswelt mit ihren modernsten und alltäglichsten Erlebnissen, was die Aufmerksamkeit der Heutigen fesselt. Der Neger und der Akrobat, der Soldat und der Aviatiker, der Kellner und der Heizer, das Dienstmädchen und der Bürgermeister, der Portier und die Couplettänzerin sind die Gestalten, denen man hier begegnet. Aber es handelt sich bei dem allen um etwas durchaus anderes als etwa in dem "Buch der Zeit" und den anderen Dichtungen von Arno Holz. Auch bei ihm wurde das Leben der Großstadt zum Gegenstand der Poesie. Auch er versuchte wie z.B. in seinem "Ecce homo" mit den Leiden und Kämpfen des heutigen Menschen mitzuempfinden. Aber Franz Werfel will mehr. Er will die Schicksale aller selbst durchmachen. "Ich weiß das Gefühl von einsamen Harfenistinnen in Kurkapellen, das Gefühl von Deputanten, die sich zitternd vor den Sufleurkasten stellen. Ich lebte im Walde, hatte ein Bahnhofsamt, saß gebeugt über Kassa-Bücher und bediente ungeduldige Gäste. Als Heizer stand ich vor Kesseln, das Antlitz grell überflammt, und als Kuli aß ich Abfall und Küchenreste." So will er denn jedem und allen gehören, will eins sein mit den Leiden aller Menschen. Den Tod der ganzen Welt will er miterleiden, in jedem Lumpen sterben, in jeder Katz und in jedem Gaul verrecken, und als Soldat in der Dürre verderben.

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Sein fortwährendes Denken an die abgehärmten, mühselig dahinlebenden Millionen von Unterdrückten, an die unter der Last ihrer Arbeit keuchenden, dampfenden, stampfenden Mitmenschen, an alle die, die in ihrer Arbeit körperlich dahin welken und geistig zu Grunde gehen, läßt es uns nicht verwundern, daß die heutige Revolution Franz Werfel vor allen anderen als ihren Dichter in Anspruch nimmt. Man will seinen Namen als den eines revolutionären Dichters festhalten, weil er den Fluch und Jammer der Zeit seelisch und körperlich durchlitten und in flammende Worte gebracht hat: "Dir aber wehe, stampfende Zeit, wehe dem scheußlichen Gewitter." Werfel wird als Dichter der Menschlichkeit gepriesen, als siegreicher Kämpfer für die Befreiung vom Elend, die in der jetzigen Revolution begonnen habe. Und doch ist er nicht vor allen anderen Revolutionsdichter, wenn er auch gelegentlich zu Aufruhr und Umsturz aufgefordert hat. "Renne, renne, renne gegen die alte, die elende Zeit." Sondern er ist wesentlich ein religiöser Geist, der sich mit Inbrunst und Anbetung in das Weltleid versenkt, wie es etwa Schopenhauer ohne Religion empfand. Wenn Werfel zum Beispiel von jener alten Frau spricht, der niemand hilft, wie sie ins Zimmer tritt, wie sie mit zitternden Händen und Füßen aufgehobene Kost von vergangenen Tagen auf den Herd trägt, so könnte man meinen, er müßte Schopenhauer zustimmen: "Der Optimismus als eine wahrhaft ruchlose Denkungsart, als ein Hohn auf die namenlosen Leiden der Menschheit."

Und doch ist die Stimmung Franz Werfels eine durchaus andere als sie in jenen hoffnungslosen Worten Schopenhauers zum Ausdruck kommt: "Wenn ein Gott diese Welt geschaffen hätte, ich wollte dieser Gott nicht sein." Franz Werfel schließt sein Gedicht "Eine alte Frau geht" mit den ergreifenden Worten: "Wenn die Greisin durch die Stube schleift, ach, vielleicht geschiehts, daß sie begreift. Es vergeht ihr brüchiges Gesicht. Ja, sie fühlt sich wachsender in allem, und beginnt auf ihre Knie zu fallen, wenn aus einem kleinen Lampenwallen ungeheuer Gottes Antlitz bricht."

Franz Werfel ist von der einen Sehnsucht bestimmt, mit Gott eins zu werden. Er will aus der Einsamkeit, die nur "Ich bin" sagen kann, erlöst werden. Er will mit der Seele der Welt im müden Droschkengaul, im untergehenden

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Seemann oder im Fabrikarbeiterkind den Tod der ganzen Welt in tausendfacher Qual einschließen, um in Gemeinschaft mit dem Allgeist sagen zu können: "Und nenne dich. - Und sage von den Dingen: Wir sind."

Weil unser Dichter mit jenem religiösen Verlangen erfüllt ist, das Gott in allen Geschöpfen nacherleben will, so pulsiert in seinem tiefen Leiden mit aller Welt ein unersättliches Lebensgefühl, ein unstillbarer Lebenshunger. Werfel will das Leben, wie es ist und wie es in tausendfachen Bächen und Strömen quillt, in sich selbst aufnehmen und von neuem erleben. Nicht Lebensverneinung wie sie die Denkrichtung Schopenhauers erstrebt, sondern tiefste unendliche Lebensbejahung ist das Wesen dieser vom Mitleid geschwängerten Dichtung. Nicht atheistische Gottesleugnung, nicht entgottende Welterlösung ist ihr Ziel, sondern vielmehr die religiöse Anbetung und Erlösung der Seele und der Welt zugleich. Freilich ist sein religiöses Ziel nicht klar und sein Glaube ohne einen festen Gegenstand, so daß er sagen kann: "Mein Richter, ich weiß nichts vom kommenden Tag, von jenem Tag, nicht ob du wirst zu Gerichte sitzen, mein Richter. Aber deinen Gerichtstag fürchte ich nicht, deine Erhabenheit nicht, dich nicht, mein Richter, mich fürchte ich, ich fürchte mich, Mich. - Ich weiß nicht, ob du bist, mein Richter, aber ich wünsche, daß du bist mein Richter." Ebenso unsicher steht es mit seiner Liebe, die doch der einzige Weg ist, sein Weltleid praktisch zu überwinden. Sie treibt ihn mit allen zu dulden und den Tod zu erleiden. Sie ist die Sehnsucht aller seiner Lieder, und doch fehlt ihm ihre Kraft und ihre Wärme: "Ich bin so zugebaut! Und alles rauscht nach Liebe. Ich auch nach Liebe weine, und hab' doch keinen gern."

Das Weltleid Werfels ist zugleich das Leid seiner Seele. Was ihn hier peinigt, quält ihn dort nicht weniger. Was er in der Welt vermißt, muß er auch in seiner Seele entbehren. Er will sein Ich mit der ganzen Welt in eine ungehemmte Einheit verschmelzen. Zwischen dem Ich und dem Du soll keine Schranke mehr sein. Und in der Tat, die Welt des inneren Widerspruchs und des Zwiespalts, die Welt des Kampfes und des Hasses, die Welt der Zerrissenheit und der Selbstzerstörung, sie lebt

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in seiner Seele, die sich im ewigen Kampf mit sich selbst zerfleischt. Deshalb fürchtet er sich selbst mehr als den göttlichen Richter. Deshalb schreit sein Gebet zum Vater auf: "Befreie mich, reinige mich, mein Vater, töte diesen Feind, töte mich, ertränke diesen Mich." Er muß sich selbst anklagen: "Sie schalten mich: Scheinmensch, charakterlos, eitel, träge, gleichgültig, zu klein zur Sünde, zu gering zur Wohltat, schwach im Frevel, und wertlos in der Rolle, und ich hörte sie, und fuhr gegen mich, und gab ihnen recht - und muß mich hassen." Er weiß sich unselig als den Entzweiten und Zwiefachen. In seiner eigenen Brust fühlt er den Feind, dem er entgegenspeit, der ihn berennt, der das Gut seiner Seele verpraßt, der sein Gewissen zerstört und seine Liebe erstickt, der ihn zu jeder Niedrigkeit verleitet, so daß er in seiner Qual ausrufen muß: "Warum hast du mich mit diesem Feind erschaffen, mein Vater, warum mich zu dieser Zweiheit gemacht? Warum gabst du mir nicht Einheit und Reinheit? Reinige, einige mich, o du Gewässer! Siehe, es wehklagen alle deine wissenden Kinder seit eh und eh über die Zahl Zwei." Der Fluch, unter dem er leidet, ist die Zerstörung der Einheit.

Das tiefe Weltleid Werfels steht in unauflöslichem Zusammenhang mit dem Schuldgefühl seiner eigenen inneren Zerrissenheit. Er kann nicht glücklich sein, obgleich ihn immer wieder die wonnige Freude am Leben durchströmt. Er kann nicht glücklich sein, weil sein Leben die Todeswunde in sich trägt. Es ist die Schwäche der Sünde, die die Kraft seiner Liebe verzehrt. Es ist der Fluch der Halbheit, der seine göttliche Sehnsucht unerfüllt bleiben läßt. Auch in ihm ist wie in Schopenhauer das Weltleid im Gleichklang mit der Schuld der Seele. Franz Werfel hätte freilich die düsteren Worte Arthur Schopenhauers nicht prägen können: "Will man wissen, was die Menschen, moralisch

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betrachtet, im großen und allgemeinen wert sind, so betrachte man ihr Schicksal im Großen und Allgemeinen. Dieses ist Mangel, Elend, Jammer, Qual und Tod. Wären sie nicht im ganzen genommen, so nichtswürdig, so würde ihr Schicksal, im ganzen genommen, nicht so traurig sein; könnte man allen Jammer der Welt in eine Waagschale legen und alle Schuld der Welt in die andere, so würde gewiß die Zunge einstehen." Obgleich so vieles bei Werfel an die Wahrheit dieser Worte anklingt, hätte er sie doch niemals aussprechen können, weil ihn in allem Leid die Freude am Leben durchströmt, weil es ihn gradezu entzückt, daß er leben darf, vor allem aber weil er im Gegensatz zu Schopenhauer in seiner tiefsten Schulderkenntnis jemanden zu haben glaubt, auf den er die Schuld von sich selbst abwälzen kann: "Wenn sündig all auf ihren Pfaden traben, betäubt und blind, wird Gott die tiefste Schuld auf sich zu laden haben, weil alle sind." Wenn Werfel sein Gewissen anklagt, so wagt er es, seinen Gott zu fragen, warum er ihn in solcher Schuld geschaffen, warum er ihn nicht zu seinem goldnen Seraph gemacht habe.

Im Grunde handelt es sich also bei Franz Werfel wie bei Rainer Maria Rilke um den Versuch, die Zerrissenheit in der eigenen Seele, den Widerspruch im eigenen Sein, die Schuld des eigenen Herzens auf das Wesen Gottes zu übertragen. Wie er sich selbst sieht, wie er die Welt und die Menschheit fühlt, wie er das Leben empfindet, so sucht sein religiöses Empfinden seinen Gott zu gestalten. So lange man für das Wesen Gottes kein klares unverfälschtes Bild gefunden hat, so lange uns Gott nicht als die widerspruchslose Liebe und Güte, Reinheit und Klarheit entgegengetreten ist . . . . [hier abgebrochen]

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Von Kopie (I) abgetippt, Anni Mathis, NMR, Nov. 1993

Verglichen: Gertrud Wegner und Christa Rhoads, NMR Dez. 1993