Published Manuscript

Von unseren Arbeitsgemeinschaft bei Schluechtern

EA 21/37

Additional Information
Author Eberhard Arnold
Date May 15, 1921
Document Id 20126081_16_S
Available Transcriptions German

Von unseren Arbeitsgemeinschaften bei Schlüchtern

[Arnold, Eberhard and Emmy papers - P.M.S.]

EA 21/37

Das neue Werk 1921/22, #2, May 1921 (p. 52-56)

Von unseren Arbeitsgemeinschaften bei Schlüchtern.

Auf die häufigen Anfragen und Einwände, die wegen der Schlüchterner "Siedlungen" immer wieder an das neue Werk gerichtet worden sind, müssen wir endlich einmal Rede und Antwort stehen. Wir haben es bisher nicht als unsere Aufgabe angesehen, im neuen Werk für unsere Lebensgemeinschaften einzutreten; denn es liegt nicht im Sinne unserer gemeinsamen Arbeit, eine literarische Propaganda für das zu betreiben, was sich uns einfach als Lebensnotwendigkeit ergeben hat. Es wird immer wieder irreführend wirken, wenn man in "Werbeprogrammen" ein ideales Gemeinschaftsbild bester Wirtschaftsformen und gereinigter Humanitätsideen entwirft oder gar Gefolgschaft für irgend einen Führer fordert. Was heute hier und da im Werden ist und langsam in der Stille wächst, kann nichts Fertiges", "Heiliges" oder absolut "Neues" darstellen. Es ist wie alles andere Christenleben in den allgemeinen Schuldzusammenhang verstrickt. So sind wir uns z.B. immer darüber klar gewesen, daß wir uns nicht aus dem Zusammenhang der kapitalistischen Weltwirtschaft lösen können. Aber es bedeutet dennoch einen immer erneuten Entschluß des Glaubens, alles aus dem Lebensgesetz der Liebe zu wagen, durch die stets erneute Liebestat freier Hingabe immer neue, praktische Wege zur Brüderlichkeit, zur klassenlosen Gesellschaft, zur Wirtschaftsgemeinschaft und Gütergemeinschaft zu finden und so zunächst in seinem eigenen Kreise das persönliche Eigentum und die kapitalistische Geldabstufung zu überwinden. Es sind immer wieder so viele Mißverständnisse und Mißdeutungen laut geworden, daß so einfach wie möglich erzählt werden muß, wie man in Lebensgemeinschaft zusammenlebt und arbeitet, warum es so geschehen muß, und welche Hoffnung für die Zukunft diese Arbeit trägt.

Es ist ein großer Fehler eines jeden neuen Anfangs, wenn er sich irgendwie programmatisch fest legt. Es erscheinen in verschiedenen in- und ausländischen Zeitungen Aufsätze über unsere "Siedlungen", die sich teils auf Briefe, teils auf persönliche Besuche, teils auf bloße Gerüchte gründeten. Wir müssen immer wieder erleben, daß vieles, zuweilen alles schief und falsch dargestellt war, weil man nicht imstande gewesen war, das Gemeinschaftsleben gleichsam auf der photographischen Platte der Augenblicks-Berichterstattung zu erfassen. In echter Gemeinschaft ist wirklich alles Leben: Es ist alles in der Entwicklung und oft mitten in schwerwiegenden Entscheidungen. Die Auswirkungen des Geistes, aus dem heraus alles Wesentliche geschieht, die Auswirkungen radikalen Christenlebens sind immer in Bewegung. Das gilt ebenso sehr von der innersten Entwicklung wie von der wirtschaftlichen Arbeit ─ und zwar umso mehr, je größer der Lebenskreis einer Gemeinschaft ist, und mit je mehr Menschen aller Art er in Berührung steht.

- - -

Jede lebendige Arbeitsgemeinschaft steht in einem "schöpferischen Arbeitsprozeß." Nur wo in Begeisterung und gemeinsamer Freude gearbeitet, hart gearbeitet wird, kann die Lebensgemeinschaft bestehen. Anstatt zuviel von "Tat" zu reden, soll man arbeiten. Gewiß, in jedem ordentlichen Beruf wird gearbeitet. Aber unsere Zeit braucht mehr, als die bisher übliche Berufsarbeit, die das Leben in ein berufliches und ein privates trennte. Die Notlage unseres Volkes und der Menschheit erfordert eine produktive Arbeit, in die man seine ganze Liebe zu jeder Stunde und mit jeder Faser legen kann. Eine solche Arbeit umfaßt alle Empfindungen und Gedanken. Sie ist nur dann möglich, wenn sie sich das höchste Ziel steckt, und den ganzen Horizont des Lebens umfaßt. Deshalb kann sie nicht vereinzelt betrieben werden, sondern fordert Gemeinschaft. Deshalb bedarf sie der tiefsten Wurzeln der Liebe, tiefer selbst als die des Eros: der Wurzeln in Gott. Der Selbsterhaltungstrieb genügt hier ebenso wenig wie das erotische Gemeinschaftsbedürfnis. Man kann keine Siedlungsgemeinschaft mit dem bloßen persönlichen "Existenzwillen", mit einem geistigen "Existenzminimum" ─ einem bloßen Ich-Leben beginnen. Eine Lebensgemeinschaft kann nur aus dem Überschuß des Lebens, aus der überfließenden Gottesliebe zu allen, also aus Gott selbst, geboren werden. Sie kann im letzten Grunde nur in Jesusnachfolge bestehen. Wenn man uns sagt, die einzige Tat sei die Arbeit im bürgerlichen Beruf, so antworten wir: Dauernd fruchtbare Arbeit ist eine Berufsarbeit, die als Jesusnachfolge den begehrlichen Willen, den Besitz als solchen aus Liebesdrang verläßt. Sie ist ein gemeinsames Leben ununterbrochener produktiver Arbeit, die gemeinnützig irgendwie allen Menschen dienen will.

Ganz gewiß kann man das auf durchaus verschiedenen Wegen in Stadt und Land beginnen, wobei wir durchaus nicht nur an Stadtsiedlungen, Handwerksgmeinden, soziale Arbeitsgemeinschaften, oder die alten Klöster und Diakonie-Anstalten denken. Wir erwählten ein einfaches Zusammenleben auf dem Lande, um von dort aus auch den Städtern ─ wenn irgend möglich ─ besser dienen zu können. In innerer Selbstverständlichkeit ergab sich eine brüderliche Gütergemeinschaft, die alles miteinander teilt, weil ein anderes Verhältnis zueinander hier nicht mehr möglich ist. Es handelt sich um eine Gemeinwirtschaft, die nicht auf irgendwelchen Verpflichtungen oder Forderungen beruht, sondern vielmehr auf dem freien urchristlichen Geist des gemeinsamen Lebens. Nicht nur Grund und Boden ist als Gemeingut gedacht, sondern ebenso sind alle Betriebs= und Produktionsmittel, und alle sonstigen Werte Gemein-eigentum. Ein solches Einspringen mit allem, was dem Einzelnen gegeben ist, in erster Linie mit der ganzen Arbeitskraft empfindet eine solche Gemeinschaft niemals als Zwang oder Bemühung oder gar als Verdienst, sondern als schlichtes, einfaches Christentum, das sich von selbst als innerlich notwendig ergibt.

- - -

Selbstverständlich wird sich immer nur der Stamm, der innerste Kern der einzelnen Lebensgemeinschaften bewußt in diesem Geist bis in diese letzten Selbstverständlichkeiten hinein zusammenfinden. Aber weder die Siedlung Habertshof noch die Neuwerkgemeinschaft Sannerz will sich in ihrer Arbeitsgemeinschaft und Lebensgemeinschaft auf einen solchen Kern beschränken. Entsprechend der gerade zu leistenden Arbeit schaffen überall Helfer und Helferinnen mit, die der Gemeinschaft nahe stehen und sich allmählich in ihren Lebenskreis hineinwirken. Auch sie sind mitverantwortlich für die Entwicklung der Gemeinschaft und werden ganz von selbst in das gemeinsame Leben hineingezogen, so weit es ihrem eigenen Fühlen und Sein entspricht. Aber auch mit diesem weiteren Kreis ist der Gemeinschaftswille nicht erschöpft; sondern ein jedes solches Haus freut sich Tür und Herz offen zu halten. Viele sind es, besonders aus der Jugend, die oft nur auf Tage, manchmal auf Wochen und Monate in ein solches praktisches Gemeinschaftsleben hineintreten. Durch nichts lernt man sich besser kennen als durch gemeinsame Arbeit. Die Arbeitsgemeinschaft sucht die Wurzeln des gemeinsamen Lebens und wird so zur Glaubensgemeinschaft. Hier sind es viele aus der bürgerlichen wie aus der proletarischen Jugendbewegung, die sich noch in keiner Weise zu Christus bekennen können, die sich aber doch auf der einen Seite in dem gemeinsamen Suchen nach Freiheit und Natürlichkeit und auf der anderen Seite in dem Kampf um kommunistische Gerechtigkeit zu einer solchen Lebensgemeinschaft gezogen fühlen. Friedensfreunde aller Art treffen sich in demselben Suchen nach der Zukunft der Brüderlichkeit und Menschheits-Gemeinschaft. Diese alle kommen durch das persönliche gemeinsame Leben irgendwie in stärkste Berührung mit dem Brennpunkt der Lebensgemeinschaft, ohne daß sie in irgend einer Weise religiös bearbeitet werden.

Die Aufgabe und Arbeitszweige unseres gemeinsamen Lebens sind gegenwärtig noch nicht so umfassend und vielseitig, wie wir sie für die Zukunft erhoffen. Die Siedlung Habertshof ist als gemeinnützig eingetragene Genossenschaft mit beschränkter Haftpflicht anerkannt worden. Die Neuwerkgemeinschaft Sannerz hat für sich als eingeschriebener Verein denselben Antrag gestellt. Einmal ist es die Gastfreundschaft, die wir ohne Unterschied und ohne irgendwelche Geldforderung jedermann gewähren, die uns gemeinnützig erscheinen läßt, und sodann liegt uns besonders die Kinderhilfe am Herzen.

Unser Gemeinschaftsleben baut sich auf der Familie auf und ergibt als Familienverband die größere Lebensgemeinschaft oder Siedlung. Waisenkinder werden nicht als "Waisen" in irgendeinen anstaltsgemäßen Betrieb gesteckt, sondern als Kinder von den einzelnen Siedlungsfamilien angenommen und wenn notwendig adoptiert; oder es bilden sich besondere "Gemeinschaftsfamilien" aus etwa zwei Mädels, die gemeinsam fünf, sechs oder acht Kinder als eine Familie erziehen. Wir hoffen darauf,

- - -

daß der Familiencharakter in baldiger Zukunft auch dadurch verstärkt wird, daß jede einzelne Familie und jede einzelne Kindergruppe mit ihren Pflegeeltern ihre Heimstätte für sich hat; besteht doch das Geheimnis des Gemeinschaftslebens in dem rechten Verhältnis zwischen Nähe und Abstand. Die Weihe des Symbols der Einehe gilt uns als die einzig mögliche gesunde Grundlage des Zusammenlebens.

Auf unserem Habertshof ist es neben der Kinderhilfe und einer kunstgewerblichen Werkstätte und Baugruppe die Landwirtschaft und Gärtnerei; worin sich die gemeinsame Arbeit bewegt. In unserer Neuwerkgemeinschaft Sannerz ist die zunächst sich ergebende Arbeitsgemeinschaft "der Neuwerkverlag" gewesen, der als eingetragene Genossenschaft mit beschränkter Haftpflicht in seinen einzelnen literarischen, künstlerischen und kaufmännischen Abteilungen im Neuwerkhaus in Sannerz arbeitet. Kurz hat sich eine kleine landwirtschaftliche, gärtnerische Arbeitsgruppe angegliedert. Daneben trat die Kinderhilfe und die Fühlung mit der Jugendbewegung, mit der Friedensinternationale und sonstigen verwandten Bewegungen, sodaß sich eine beständige und oft zahlreiche besuchte Wanderbleibe herausgebildet hat, die den Jugendherbergen angeschlossen ist.

Die Jugend muß wandern, solange sie schweifend ist. Sie sucht von Berg zu Berg, von Landschaft zu Landschaft, bis sie den Boden gefunden hat, der ihr zur Heimat wird und sie ansässig macht. Unser Volk braucht eine neue bodenständige Kulturgemeinschaft, die nur mit dem einfachsten, schlichtesten Arbeitsleben beginnen kann. Der Ackerboden und die Gartenerde ist der gesündeste Wurzelboden einer Erziehungsgemeinschaft. Jede andere Arbeit ist an sich ebenso wesentlich. Aber ob man es mit Kindern, mit jugendlichen Menschen oder mit alten Leuten zu tun hat: Gemeinschaft ist immer wirklich als Arbeitsgemeinschaft; und diese ist immer und überall Erziehungsgemeinschaft. Nicht Lehrkurse und Lehrmethoden bringen die Menschen zur Reife, sondern nur Zusammenleben als Arbeitsschule, die autonome Selbsterziehung aus den inneren, selbstverständlichen Bedürfnissen der Gemeinschaft heraus. So ist denn wie all unser Leben auch unser sich immer mehr ausgestaltendes "Schulwesen" nichts anderes als das Arbeitsleben der Gemeinschaft.

Naturgemäß kann sich alle diese Arbeit ihrem innersten Wesen nach nicht auf Haus und Hof beschränken. Der Wille zur Volksgemeinschaft drängt von selbst zur Freundschaft mit der ländlichen Bevölkerung, unter der wir leben. Ob nun ein Hans Sachs-Stück oder ein Weihnachtsstück versucht wurde, oder ob wir uns immer wieder mit Volkstänzen und Gesängen mit der Dorfjugend vereinigen, ob wir in den großen Bauernstuben mit den Bauern Bibel lesen, oder ob wir in Volksabenden in der Dorfschule uns in gemeinsamer Arbeit mit Alt und Jung den wirtschaftlichen und geistigen Lebensfragen der Gegenwart zuwenden: Wir können nicht für uns bleiben. Einzelne und auch kleine Gruppen gehen hier und da in andere Dörfer und Städte, um auch

- - -

dort vor größerem oder kleinerem Kreise oder ganz im Kleinen in demselben Sinne Lebensgemeinschaft zu suchen und mit den anderen allen aufzubauen.

Wir fühlen uns als Kinder, die laufen lernen müssen. Es handelt sich dem Wesen nach um nichts anderes als um den neuen Instinkt des Geistes Christi, der alle die zu Kindern und Kindern Gottes macht, die zu derselben Gemeinschaft desselben Christus gehören. Zu allen Zeiten ist es von Christus aus zu entsprechenden Bruderschaften des gemeinsamen Lebens gekommen. Aber niemals kann es sich darum handeln, die Lebensform Jesu mühsam nachzuahmen oder die Gemeindeverhältnisse der ersten Christen zu Jerusalem zu imitieren oder die Bergpredigt als ein neues Gesetz gesetzmäßig zu befolgen. Derselbe Lebensgeist, der in dem Leben Jesu so wirkte, wie es uns die Evangelien erzählen, der in der Urgemeinde die Gütergemeinschaft und Lebensgemeinschaft der völligen Liebe bewirkte, derselbe Geist desselben Christus ist auch heute überall in seiner Gemeinschaft gegenwärtig. Er zieht uns in die Nachfolge Jesu und zeigt uns immer deutlicher, eine wie weite Strecke zwischen uns und dem Ziel liegt. Unsere kleinen Kreise können sich niemals einbilden, kleine Sonnen zu sein. Wir kennen nur die eine einzige Sonne: das Herz Gottes, das allein in Jesus sein reines Wesen enthüllt hat. Wenn wir uns an unserem "Sonnherz" freuen, können wir niemals etwas anderes meinen, als das Innerste Gottes selbst.

Nur von ihm aus können wir unsere Lebensaufgabe immer von neuem in Angriff nehmen. Jesus allein ist die Erfüllung dieser Aufgabe. Er tut sie, ohne ihn können wir nichts tun. Wenn wir unser kleines Gemeinschaftsleben betrachten, sehen wir tausend Dinge, die in der Zukunft ganz anders werden müssen. Unsere Hoffnung geht auf eine Lebensgemeinschaft hin, die alle Arbeitsgruppen produktiven Schaffens ohne fremde Hilfe in seiner Selbstversorgung vereinigt. Sie könnte als eine kleine Stadt auf dem Berge unserem Volke und der Menschheit ihren Dienst einfach durch ihr Dasein leisten. Wenn auf einem solchen Leuchter ein noch so kleines Licht brennt, so kann dieses Licht nichts anderes sein als nur Jesus, der Mensch der Zukunft. Die Gemeinde des lebendigen Christus verkündigt in ihrem Leben einen Zukunftszustand, wie ihn Jesus in der Bergrede, in seinen Reichsgottesgleichnissen, in allen seinen Worten und Taten verkündet und vertreten hat.

Neuwerkgemeinschaft Sannerz

Siedlungsgemeinschaft Habertshof.