Eberhard Arnold

Die Erlösung der Liebe

[Arnold, Eberhard and Emmy papers – M.S.]

EA 23/04

Die Erlösung der Liebe

Dr. Eberhard Arnold

Niemand kann die Liebe leugnen; jeder fühlt, daß sein Schicksal Liebe ist; es gibt kein Leben ohne Liebe. Blickt man hinein in das Geheimnis der Naturkräfte und seines Lebens, so sieht man, daß es überhaupt kein Leben gibt, das nicht in Beziehung des Lebens zueinander, in Gemeinschaft des Lebens mit dem Leben besteht. Leben ist Verband von Leben, Leben ist Bund zwischen dem Lebendigen, ist Einheit der Welt des Lebendigen. Alles, was wir in den Naturkräften sehen, bestätigt diese Tatsache, auch außerhalb der Welt, die wir als lebendig zu betrachten gewohnt sind. Welche Naturkräfte wir auch ins Auge fassen: sie alle werden Symbole der Liebe und Gemeinschaft, des Zusammenschlusses alles dessen, was lebt. Die Naturkraft der Anziehung, die die Gestirne größter Dimensionen in rhythmischer Kreisbewegung um ihren Mittelpunkt schwingt, diese Kraft der Anziehung und der Schwere, ist auch eigentlich das entscheidende Kennzeichen der Naturkräfte für das Wesen der Natur, für das Leben der Liebe. Die Naturkraft der Wärme, der Elektrizität, der Strahlungen, der Anziehungen jeder Art wie der Magnetismus, oder welche Naturkräfte wir nehmen wollen, sie werden alle zur stofflichen Darstellung, zur Verleiblichung und Symbolisierung des Urprinzips der Natur, für die Wärme, das Licht, das Licht der Liebe, für die Arbeitsfähigkeit und Wirkungsfähigkeit, die allein aus der Liebe geboren wird. Sie alle bilden eine große Einheit, was bestätigt wird durch die Tatsache, daß sich die Energien ineinander verwandeln und umgestalten lassen, also alle Energien des Weltalls als konstante Größen gelten müssen. Die Tatsache ist kennzeichnend und symbolische Verdinglichung für das Wesen der Natur als das Wesen der Liebe, einer unveränderlichen und überwindenden Kraft. Die Denker der Menschheit, die das Wesen des Naturzusammenhangs zu enthüllen versucht haben, sind wieder und wieder auf die Tatsache gestoßen, daß eine Kraft im und am Stofflichen tätig ist, eine Energie, die sich

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dort als Wesen aller Dinge beweist. Alle Philosophen bis in die neueste Zeit hinein haben sich mit diesem Problem beschäftigen müssen. Ob wir mit Philosophen vor Sokrates sagen, daß alles fließt, strömt, flutet, lebt und in ununterbrochener Bewegung ist, oder ob wir mit Schopenhauer bekennen, das Geheimnis der Welt ist neben der Vorstellung des Bewußtseins der Wille, der Trieb, die Kraft der Bewegung, wir kommen immer mehr zu ein und derselben Tatsache: das Geheimnis des Kosmos ist die Kraft, die als Bewegung offenbart wird, und diese Kraft betätigt sich am Stofflichen und im Raum. Denn es kann ja keine Bewegung geben, die nicht im Raum und an der Materie wirkt. Nietzsche hat für den Menschen diese Urtatsache von neuem aufgegriffen und für uns heute in eine neue entscheidende Beleuchtung gerückt. "Was nützt es uns," sagt er, "wenn wir mit Schopenhauer sagen, Wille sei das Geheimnis des Lebens und der Wille zum Leben sei Trieb des Daseins. Der Wille muß stets wissen, was er will. Es gibt keinen Willen, der nicht klar ist über den Gegenstand seines Wollens. Aber auch bei dem Leben muß ich fragen : Was ist denn nun sein Wert, sein Inhalt, sein eigentliches Geheimnis, sein Ziel? Was will ich, wenn ich das Leben will?" Und er glaubte uns die Antwort auf diese Frage geben zu können mit der Behauptung: Der Wille zur Macht ist das Geheimnis des Daseins. Von Nietzsche her sind wir alle in der Bewegung geblieben, und wir alle haben uns mit dieser Tatsache des Daseins wieder und wieder auseinandersetzen müssen. Als ein prophetisches Genie hat Nietzsche die Entwicklung vorausgesehen, in der wir heute stecken, und doch hat es ihm bei seinem Schauen des zukünftigen Menschen, der Nachkommen des Menschen, an dem Entscheidenden gefehlt. - Wille zur Macht sei das Geheimnis des Lebens? Macht ist offenbar Kraft, die extensiv Einfluß wirkt. Welche Macht ist denn gemeint? Was ist denn die Macht, die Geltung behält? Welche Macht, die mein Leben erfüllen soll? Etwa die Macht zu herrschen, Besitz zu häufen, etwa die Macht, andere zu knebeln und zu knechten?

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Wieder fragen wir: Bedeutet die Kraft als Macht eine Gewalt, die nur dadurch ihr Dasein behauptet und ihren Besitz vergrößert, daß sie andere beraubt? Wenn das Nietzsche gemeint hätte - manchmal scheint es fast so - dann fühlen wir es mit innerster Gewißheit des Naturgefühls: Das ist falsch! Das ist der Tod! Das kann nicht das Leben sein. Leben, das andere Leben knechtet und überwindet, tötet und aussaugt, vergeudet und verbraucht, vergiftet und verdirbt, mißachtet, ist nicht das Leben, nicht Kraft und Macht des Lebens! Niemals! Ein Leben, das zerfleischt, umbringt, entrechtet, das ist Dekadenz, Selbstzerstörung und Entartung. Der Wille zur Macht, um den es sich hier handelt, ist eine andere Kraft als die der Besitzergreifung und Knechtschaft. Es ist die Macht der Liebe, die stärker ist als Tod, und der eigentliche Trieb des Lebens ist Wille zum Leben als Wille zur Liebe, - Glaube an die Macht der Liebe. Die einigende Lebensmacht, die nicht die Vergiftung will, ist die Macht der Liebe, des Lebenszusammenhanges, die Macht der Beziehungen und Gemeinschaftsbildung. Alles, was wir in der Natur sehen bei der Teilung und der Vereinigung geht eben darauf aus. Ob es Artfortpflanzung ist, die Liebe der Geschlechter oder gegenseitige Hilfe und der Dienst der Arten aneinander, überall sehen wir: Das Urwesen ist nicht Kampf ums Dasein, es ist vielmehr der Gemeinschaftswille, die gegenseitige Urbeziehung, das innerste Bezogensein auf einander, die Hilfe an einander, die Einheit alles Bewußtseins, die Vereinigung alles Lebendigen, die Liebe des Lebendigen zu einander. Das Leben in der Natur offenbart die Liebe als Wesen des Lebens. Alle Farbenpracht, aller Klangreichtum, aller Rhythmus hat seinen Höhepunkt nur in der Liebe. Die Liebe ist Energiegefühl des Lebens. Sie wird aus der Fülle des Lebens, der Überfülle geboren und der Freude und in Kraft gezeugt. Sie ist der Überschwang des Lebens, und nur das Leben ist lebendig, das des Überschwanges fähig ist, nur das Leben ist Liebe, das Überfluß des Lebendigen in sich trägt. Sie ist Freude des Geistes am Wirklichen. Diese Kraft der Lebensent-

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faltung ist die höchste Aktivität, die Schaffensfreudigkeit, die Schaffenskraft in der Entfaltung aller Energien. Gerade wie bei Blumen und Vögeln, so auch bei Menschen sind die Zeiten der Liebe die Zeiten, in denen von dem Geist her Leib und Seele durchdrungen sind, die Zeiten der Aktivität und höchsten Kraft. Und kommt sie zu dem, zu dem sie bestimmt ist, so wird sie den Menschen, den sie ergriffen hat, zur höchsten Entfaltung seiner Kräfte führen, die ihn zur Arbeit in der menschlichen Gemeinschaft befähigt. Wer nicht selbst fest auf den Füßen steht, kann nicht lieben. Schwächlinge sind schlechte Liebhaber. Liebe kann nur dort in Erscheinung treten, wo das Leben in Kraft pulsiert; und wenn in einem solchen Menschen das Leben zur Entfaltung kommt, dann bedeutet es Überwindung aller Einseitigkeiten und Verschrobenheiten und Hervorbringen der höchsten Kraftentfaltung, deren es fähig ist. Liebe wird Leben, jauchzendes Ja zum Leben, jauchzendes Ja zur Gemeinschaft des Lebens; und das allein ist Liebe. Wenn ich hasse, nehme ich mir etwas. Das Leben ist eine ununterbrochene Bereicherung des Daseins durch Überwindung der Lebenshemmnisse. Leben ist Kampf und Überwindung; aber Leben ist ewige Kraft und Überwindung in diesem Sinne, daß Tod und Tötendes überwunden wird durch das Gesundende, durch das Überschwängliche des Lebens als der Liebe. Tod des Lebens, Mord des Lebens ist Urfrevel am Leben selbst, Gegensatz der Liebe und des Gemeinschaftswillens. Wer glaubt, aus Liebe, aus Solidarität und treuer Hingabe für den Geliebten Leben töten zu müssen, zerstört mit dieser eigenen Handlung, auch wenn sie aus der Liebe kommt, das, wofür er sich begeistert und einsetzt, eben das Leben, die Gemeinschaft des Lebens. In dem Totschläger bleibt das Leben nicht ("Wer das Schwert nimmt, muß durch das Schwert umkommen"), und wie dies beim Mißverständnis der Vaterlandsliebe und der Solidarität des Klassenkampfes zutage tritt, so ist es auch beim Mißverständnis der Liebe der Geschlechter. Das Deutsche hat für den Begriff 'Liebe' nur ein einziges Wort, eben dies Wort "Liebe". Nur in der neueren

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Sprache sind neue Worte aufgekommen, wie einst im Mittelalter das Wort "Minne" geprägt wurde, das später verloren ging. Heute wissen wir, daß die Solidarität des Kommunismus, das Gemeinschaftserlebnis bewegter Jugend, die Hingabe an die Aufgabe in der Gemeinschaft Worte und Begriffkomplexe umschließen, die zum Wesen der Liebe tiefer, wahrhaftiger und wirklicher gehören als alles das, was man auf der Gasse Liebe nennt. Das Mörderische, das Besitzergreifen, das Rechtefesthalten, das Rechterobernde, das Körperversklavende und Leiberverderbende, das Feindtötende, das gierig Aussaugende und das Ausnutzen der Geschlechtsliebe ist alles Tötung des Lebens, Verleugnung der Gemeinschaft, Verlassen der Liebe, Entleerung von Geist, Ermorden - des eigenen Lebens, - Gottlosigkeit. Wahre Liebe ist unlösbare Einheit alles Lebendigen. Aus dem Geist als der umfassenden Einheit des Lebens dringt durch die Schwingung und Verbindung der Seele die Lebenskraft zur Vereinigung der Körper oder zur Gemeinschaftsarbeit am Stoffe hervor. Wahre Liebe ist Geist, ist Kraft. Hier ist unter Geist nicht die scharfe Logik der menschlichen Vernunft zu verstehen, nicht die Fäden, die der Menschenverstand spinnt; das gehört wohl auch zum Geist, aber Geist ist mehr als das. Er ist Lebensgeist, Liebesgeist; Geist ist verbindende Gemeinschafts- Energie, Lebenseinheit des Alls, ist Band, ist Bund, ist Kreis, ist Ring, ist rhythmische Schwingung um den Mittelpunkt, ist Einheit. Das alles aber ist uns nicht klar, wenn wir auf dem Gebiete der Erotik von Liebe sprechen, so ist es uns oft nicht recht klar, weil die Sprache ihre "Minne" verloren hat, weil die heutige Sprache nicht mehr unterscheidet zwischen Liebe des Geistes, der Seele und der entgeisterten, entseelten Körperlichkeit. Der Grieche, der unserem deutschen Empfinden so unendlich nahe steht, hat diese Unterscheidung bis ins tiefste hinein gekannt. Er kannte die begehrliche Lust der Liebe, er kannte den seelisch beschwingten Eros der Liebe und die vom göttlichen Geist erfüllte Agape des lebendigen Gottes. Heute gibt es viele Menschen,

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die in ihrer inneren Skepsis dahin gelangt sind, überhaupt in der Liebe nichts anderes zu kennen als das Körperliche, Sinnliche, und es bleibt Tatsache, daß in den Parteien des Gehirns die Sphäre der religiösen Lebenserkenntnis und Gemeinschaftsempfindung benachbart und verwandt ist mit der Sphäre der erotischen Beziehungen, daß so überhaupt in dem Leben der Menschen diese gemeinschaftlichen Erlebnisse der Liebe durchflutet und durchklungen sind von der Freude der Sinne an den Leibern der geliebten Menschen. Die Liebe, die vom Geiste kommt, die aufs Ganze geht, die nicht auf die begehrliche Besitzergreifung ausgeht, diese Liebe ist immer da, wo Menschen sind; aber ebenso ist auch die besitzergreifende Lust, die den Körper für den Körper haben will, immer dort, wo Menschen zu vielen zusammen sind. Und zwischen beiden liegt das große, weite, tiefe Gebiet des seelischen Gefühlslebens. Gerade so wie unser inneres Leben ein Tummelplatz gewaltiger Kräfte ist, so ist dieses Gebiet uns ein Schauplatz gewaltigen Ringens; und eben das, was draußen vorgeht in der Sphäre der politischen Vorgänge, finden wir hier im Innersten der Sphäre des Erotischen wieder. Der Kampf ums Dasein, das Besitzergreifen sind Triebe des egozentrischen Ich-Bewußtseins. Sie sind immer da, und diese Kraft, die in uns wirksam ist, ist das Prinzip des Bösen schlechthin. Ich verstehe unter dem Bösen nichts Moralisches, nichts, wobei man an irgendwelche Ethik, Gebot und Verbot zu denken hat. Für mich ist das Böse schlechthin nur das, was dem Leben feindlich ist, und groß und göttlich nur das, was wahres Leben bringt, fördert und verbreitet. Der Urfeind des Lebens, das sich beweist in der Macht der Liebe, ist der Wille der Besitzergreifung, der Geschäftsgeist des Mammons, der Rechtsgeist, der Besitzverhältnisse untereinander und ebenso die Loslösung des Geschlechtstriebes von der Seele weg, von der Geisteseinheit fort, ohne die Gemeinschaft zum Geist. Das alles ist Tod, ist nicht mehr Lebensverknüpfung, ist Verwesung: "Wer zur Hure geht, wird ein Fleisch mit ihr, ohne in einem Geist mit ihr zu sein". Er ist von seiner eigenen

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Seele abgefallen, hat sich von seinem eigenen Lebenszusammenhang getrennt, ist Selbstmörder seines eigenen Lebens geworden. Wer in der Besitzgier Güter für sich selbst festhalten will, während sein Innerstes ihn drängt, seines verborgenen Geistes Wille ihn treibt, mit allen Lebendigen eine Gemeinschaft, eine gemeinsame Bewirtschaftung und Erfüllung zu finden, auch der ist ein Mörder und Verwüster seines eigenen Lebens und des Lebens seiner Mitmenschen; Liebe allein ist das Leben. Nur durch Liebe wird das Leben erlöst. Aber die Liebe selbst muß erlöst werden, denn wir kranken an unserer Liebe. Unsere Liebe ist entartet, unsere Seelen verderbt, unser Geist entgeistert. Und eben deshalb fehlt der Glaube, daß unter den Menschen Gemeinschaft sein könne. Wir glauben nicht mehr daran, daß sie Gemeinschaft im Geist sein könnte, daß sie so weit gehen könnte, daß aller Besitz ohne jedes Recht auf das Festhalten des Besitzes sein könnte, glauben nicht mehr daran, daß es eine Erlösung der Liebe von der besitzergreifenden Liebe, von der Begierde gibt, daß sie eine Gemeinschaft der Menschen in der Solitarität aller Lebensbeziehungen und in der Gemeinschaft aller Lebensgüter halten könnte. Ich sage, wir glauben nicht mehr daran, und doch: wir glauben alle daran. Das eben ist die Kraft in unserm Innersten, daß doch in der letzten Tiefe unseres Herzens dieser Glaube schlummert und nicht getötet werden kann.

Es war in einer Versammlung jugendlicher Arbeiter in einer kleineren Stadt, in der Sozialdemokraten und Unabhängige miteinander zusammen waren. Nach der Aussprache über viele Dinge der zukünftigen Wirtschaft und des Weges zu ihr tauchte unter anderem auch die Frage auf: Ist denn in der Arbeiterschaft noch der Glaube an die Zukunft lebendig? Denn wer den Sozialismus kennt, weiß, daß das Wesen dieser Bewegung Glaube ist an die Zukunft in Gemeinschaft, daß der Wille zur Liebe endlich einmal stärker sein muß als der Tod und die Ungerechtigkeit des Mammons. Da war es so bedeutsam, daß von den Sozialdemokraten und Kommunisten einstimmig das Bekenntnis abgelegt wurde: Ja, wir

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glauben, und dieser Glaube kann nicht sterben, und wenn auch die Arbeiterschaft noch viele Enttäuschungen in ihrem Kampfe und ihren eigenen Reihen haben sollte, sie wird ihn nicht verlieren und wird für ihn zu sterben wissen. Gerade so, wie in der Arbeiterschaft eine Realität lebt, die stärker ist als alle Wirklichkeit der geschichtlichen Enttäuschungen, so ist es auch mit den Menschen überhaupt. In uns allen lebt überwindend diese Quelle des Lebensglaubens und der Liebeshoffnung. Wir könnten gar nicht leben, wenn wir diesen Glauben nicht mehr hätten. Wohl mag er verschüttet sein, verkalkt sein, entstellt sein; da ist er immer. In uns allen ist er immer. In uns allen lebt die Hoffnung der Zukunft, der Wille zur Gemeinschaft, die Freude der zukünftigen Einheit des Lebens. Der Geist der Liebesenergie ist in jedem, er ruht in jedem Menschen. Aber dieser Geist ist nicht nur in uns da, er ist in der ganzen Welt, er kommt über uns in bestimmten Augenblicken der Überfülle und mit einer Wucht und Gewalt, daß wir von ihm überwältigt und zu Boden geworfen werden, daß alle Bedenken zerstieben wie Seifenblasen und wir fühlen: das ist ja alles Wirklichkeit, diese Liebe, dieser Glaube an die Einheit der Menschheit, die Gewißheit, daß alles Lebendige zusammengehört ist ja recht eigentlich die Wahrheit. Pilatus fragt Jesus: "Was ist Wahrheit?" und er erwidert ihm: "Ich bin die Wahrheit!" Wir alle fühlen es in den entschiedensten Stunden, in denen wir wahr und wahrhaft werden und der ewigen Wahrheit gegenüberstehen. Zwischen uns Menschen herrscht eine einzige Solidarität: wir sind alle gleich schuldig an unserer Zerrissenheit, an der Not, die in diesem geschichtlichen Augenblick auf uns lastet und sind alle in gleicher Weise bedrängt von der ewigen Wahrheit her zu den Taten der gegenseitigen Liebe und Hingabe. Wir fühlen: es muß wieder Gemeinschaft werden! Sie muß eine Arbeitsgemeinschaft sein, ein schöpferisches Band, eine Erfüllung der Liebe, eine Lebenseinheit. Die, welche ihr Denken von dieser Welt abwenden, und ihr Hoffen auf ein jenseitiges Leben nach dem Tode verlegen, sind Falschmünzer der Wahrheit. Die neue Erlösung soll kommen zu

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uns, der neue Wille soll geschehen hier auf Erden; ferner nur durch die Liebe können wir erlöst werden von der Liebe, die zum Tode führt. Nur durch die Liebe des Lebens können wir von der Liebe des Todes befreit werden. Viele sind hierin vorangegangen, Jesus als der erste und entschiedenste. Es konnte nicht anders sein, daß dieser Mensch in seinem "So Anderssein" ermordet wurde. Daß er ermordet wurde von dem Militär, von dem besten juristischen Staat, den es je gab, von dem besten prophetischen Volke, das je gelebt, von der Kirchenleitung und der Volksstimme; das alles kann nicht Zufall sein. Wir alle sind die Mörder. Die Menschheit hat ihn gemordet, weil der begehrliche Wille des Besitzes, die begehrliche Lust des Festhaltens und Besitzenwollens zu stark war, um diesen Zeugen der Wahrheit ertragen zu können. Und wir können noch heute seine Wahrheit nicht vertragen und verdrehen sie deshalb mit allen Mitteln, und wir haben nicht mehr den Mut, uns die Bedeutung des Wortes: "Liebet eure Feinde" klarzumachen. Alles, was er zeigte, mündet in die einfachen Worte: "Was ihr für euch selbst wollt, das euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch". Ich traf sehr viele fromme Menschen, die sehr um die Seele ihrer Mitmenschen bangten, aber ich beobachtete an diesen Menschen etwas ganz Erstaunliches: sie hatten kein Auge dafür, wenn ihre Mitmenschen verhungerten, sie hatten aber wohl ein Gefühl dafür, was sie für sich selbst nötig hatten und für die Gesundheit ihres eigenen Körpers. Ich habe nie begreifen können, wie solche Menschen sich mit lauten Worten zu Jesus bekennen konnten. Den Weg Jesu gehen wir nur dort, wo wir alles verlassen, um mit ihm zu gehen. Er [Es?] bedeutet Eintreten für alle Menschen und die Unterdrückten zuerst. So hat er selbst gelebt, und so haben im Laufe der Jahrhunderte viele Menschen ihr Leben geführt, aber in erstaunlicher Weise hat das 19. Jahrhundert diese Erkenntnis verschoben [Satz unklar] und wir sind in eine Krise geraten, die garnicht mehr zusammen passen will mit dem, was über Gott gesprochen worden ist.

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Die, welche sich Atheisten nennen, bekennen sich zu der Zukunft der Liebe, zur Solidarität mit den Entrechteten und Besitzlosen; die, welche sich Christen nennen, bekennen sich meist zu den Besitzenden und der Aufrechterhaltung der alten Zustände, während in anderen Jahrhunderten sich nicht nur Einzelne wie Franz von Assisi, sondern Scharen in großer Zahl zur Hilfsgemeinschaft drängten. Wir haben aber im materialistischen Zeitalter die Beobachtung gemacht, daß das Gebot, das Jesus in seiner Bergrede erteilte, sie nicht erfaßt hat: "Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen." Die kommende Revolution ist die Umwälzung und Umwertung aller Werte, die Umwälzung aller Verhältnisse: sie ist die Revolution aller Revolutionen. Was Revolution ist, ist klar. Es liegt im Gegensatz zur Evolution. Gewiß gehört sie in einem gewissen Sinne in die Entwicklung hinein, aber nur als ein plötzlicher Sprung in einem langsamen Lauf, wie eine unerwartete Bergkluft auf einem ebenen Wege; sie ist das Empordringen unterdrückter Schichten zu neuem Leben, eine geschichtliche Umwälzung, die das, was vordem an der Schattenseite ohne Liebe und Leben dahingedämmert ist, nun ans Licht hervorbringt und alles hervorholt. Es kommt nicht auf den Weg, sondern darauf an, ob eine solche Umwälzung hilft, daß das bisher Unentfaltete, Niedergedrückte zur Entfaltung gelangt. Wir wissen, daß durch die Revolution von 1784 alles mit ihr Zusammenhängende, die bürgerliche Schicht, zu dieser äußeren Lebensentfaltung gekommen ist, daß sie eine gewisse Freiheit der bürgerlichen Lebensentfaltung gebracht hat und zu ihrer Folge den individualistischen, kapitalistischen Menschen gehabt hat, mit seiner Selbstsucht, statt des menschlichsten Menschentums des gegenseitigen Freigebens die Geschäftsgier untereinander. Ich will nur im Laufe dieses Vortrags feststellen, daß die eigentliche Umwälzung so sein muß, daß es durch sie zur Brüderlichkeit der Menschen untereinander kommt. Brüderlichkeit kann aber nur aus dem Geist des Bruderseins erwachsen, nur

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dort, wo Ausgangspunkt und Zielpunkt und Kampfmittel von diesem Geiste des Bruderseins geleitet und bestimmt werden. Deshalb bekenne ich mich zu dieser Revolution als der entschiedensten und tiefsten, zu der ungeheuren Weltkatastrophe, die Jesus kannte, der Umwälzung aller Dinge und Verhältnisse unter den Menschen, welche er als das kommende Reich Gottes bezeichnete. Dieses Kommen des lebendigen Gottes unter die Menschen hat er gesehen und empfunden als das Höchste, was die Menschen erreichen, nämlich, daß sie Menschen werden. Gerade diese Schicht der Menschen, die die Sehnsucht nach der Einheit des Lebens, nur die schlichteste Menschlichkeit zu ihrem Lebensinhalt hat, die Menschlichkeit als Wille zum Leben, als Freude an allem Lebendigen, als Solidarität und Brüderlichkeit, gerade diese Schicht ist zu allen Zeiten die unterdrückteste aller Schichten, und diese ist ja der Grund dafür, daß so wenige Menschen bereit sind, durch diese enge Pforte, in dieser kleinen Gemeinschaft, auf diesem schmalen Wege einzugehen, einfach Kinder zu werden, einfach mit Jesus zu gehen, daß dieser Entschluß bedeutet: Verlust von Vorrecht und Besitz aller Art. Er bedeutet Untergang, so schweren und sozialen Untergang, daß die meisten das Gefühl haben: Es ist ja ein unmittelbarer Selbstmord. Und in gewissem Sinne ist es das auch. Jesus hat es in die Worte geformt: Wer sein Leben lieb hat, wird es verlieren; wer es aber verliert um meinetwillen, der wird es finden. Wir müssen es verlieren, um es zu finden. Diese Tatsache bedeutet, daß unser verdorbenes Liebesleben überwunden wird, bedeutet, daß wir befreit werden von der Liebe zum Besitz und begehrlicher Lust. Es scheint als Sterben, aber es ist ein Sterben zur Auferstehung, zur Lebensneuheit, daß wir zum wahren Leben hindurchdringen, vom Tode zum Leben kommen, aber nicht etwa zum jenseitigen, himmlischen, sondern zum leiblichen Leben auf dieser Erde. Auf dieser Erde ist das Leben, von welchem die ersten Christen zeugten: Unser Leib soll ein Tempel des heiligen Geistes sein. Es bedeutet, daß wir miteinander als werdende Gemeinde, als Organismus eine wirkliche Einheit werden,

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daß die Welt ein geweihter Raum für den Gemeinschaftsgeist wird. Diese Gemeinschaft wird eine Arbeitsgemeinschaft werden; denn der Geist sucht immer den Stoff auf. Und das, was in dem neuen Leben der werdenden Gemeinschaft entsteht, wird der schlichte Mensch sein. Was diese brüderlichen Menschen als Bruderschaft und Gütergemeinschaft auffassen, ist die Lebenskraft der Lebenseinheit, die alle Dinge des Lebens umfaßt, z.B. die Handarbeit, Bearbeitung des Holzes u.s.w., welche die wirkliche, gerechte Verteilung aller Lebensgüter und Arbeit ermöglicht. Der menschliche Mensch muß wieder aus der Unterdrückung zur Führerschaft kommen.

Von diesem Ziel sind wir unendlich weit entfernt, aber es gilt mit Vertrauen auf den Geist des Lebens, der der Geist der Liebe und Einheit und Solidarität ist, im Vertrauen auf diesen Geist des Lebens und der Gerechtigkeit, der allein das Leben ist, es gilt durch Freiheit über die Gleichheit hinaus zur Brüderlichkeit zu gelangen.