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Der Einzelne und die Weltnot

EA 25/06

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Author Eberhard Arnold
Date March 08, 1925
Document Id 20125987_35_S
Available Transcriptions German

Der Einzelne und die Weltnot

[Arnold, Eberhard and Emmy papers - P.M.S]

EA 25/06

Der Pilger aus Sachsen, Nr. 9/10, 8. März 1925

Der Einzelne und die Weltnot

(Fortsetzung der Vortragsreihe von Dr. Arnold in Nr. 1-4) (Schluss)

Mit verhungerten Kindern kann die beste Schule nichts gegen das Elend der geistigen Verstumpfung unter den Kindern leisten. Der Hunger und die Barbarei der Kinderarbeit und der Kinderausnutzung sind das Haupthindernis der Kindererziehung. Das wahnsinnige Prügeln der Kinder, oft mit brutalen Gegenständen wie mit einem Gummiknüppel, wie sie der Polizeibeamte gebraucht, hängt mit diesem Sorgen-Elend tiefster Verärgerung aufs engste zusammen. Aus dieser Not führen tausend Wege zum Laster, in das das kleine unreife Proletarierkind nur zu oft hineingerät. Wie die Prostitution, der Verkauf der jungen Leiber für elendes, dreckiges Geld, an sich auch eine soziale Erscheinung der Armut ist, so können wir nachweisen, dass die unehelichen Geburten nicht nur um einen ganz deutlich der Armut entsprechenden Prozentsatz steigen, und dass sich ebenso die Verbreitung der Prostitution nach der Arbeitslosigkeit und nach der Niedrigkeit der Löhne regelmäßig richtig steigert. Es besteht ein unverkennbarer Zusammenhang zwischen der rein wirtschaftlichen Basis der proletarischen Familie und der Entartung ihrer Töchter auf der Straße. Das Ende ist die Verzweiflung. Grauenvolle Einzelgemälde, wie im Krankenhaus, in der Fürsorge-Arbeit, im Kerker hinter Schloss und Riegel, verzweifelte Mädchen vor Menschen auf die Knie fallen, oder wie sie ins Wasser gehen, oder sich auf anderem Wege ums Leben bringen würden unser aller Gefühle in tiefstem Mitleid erschüttern, in einem Mitleid, das bei manchen vielleicht nicht mehr als ein vorübergehender Gefühlsrausch wäre. Es kommt auf etwas anderes als auf bloßes Mitleid an. Wir müssen alle erweckt werden zu der Verpflichtung, die Not der Welt zu studieren, sie ganz in uns aufzunehmen und ihren Gründen nachzugehen, wirkliche Sozialstudien treiben, uns im Einzelnen darüber klar zu werden, wie zum Beispiel die Wohnungsnot, die zweifellos eine Hauptursache dieser Verelendung ist; und weiter, wie die kapitalistische Arbeitsfrage, die eine ebenso zweifellos tiefere Ursache des Unglücks der arbeitenden Menschen enthält. Die Gesamtfrage zwischen Arbeit und Lohn, zwischen Arbeit und Ernährung und Wohnung muss einer menschenwürdigen Lösung zugeführt werden. Hier kann nur dazu angeregt werden, dass diese Fragen ernst genommen werden müssen, dass schließlich keiner mehr unter uns sein kann, der nicht den ernsthaften Vorsatz fasst, alle freien Stunden darauf zu verwenden, dies alles gründlichst kennen zu lernen. Ein solches Durcharbeiten muss auf doppeltem Wege geschehen. Einmal im Durchforschen zuverlässiger Bücher und im Kennlernen sozial arbeitender Menschen und zum Zweiten indem man selbst die Orte der Not aufsucht, und mir ihnen Gefühlsgemeinschaft, Arbeitsgemeinschaft, Erlebnisgemeinschaft und Verpflichtungsgemeinschaft gewinnt. Freilich wir können verzweifeln, wenn wir erfahren, wie das Leben tatsächlich ist. Es kann uns ergehen wir dem Prometheus in der griechischen Sage. Sein Schmerz tritt in der ältesten Form der Sage körperlich in immer erneuter Zerfleischung mitten im Sonnenbrand entgegen. Prometheus, der Erfinder der Menschheitskultur, der dem Menschengeschlecht das Feuer gebracht hat, er muss es hilflos und wehrlos ertragen, wie die Geier des Zeus Tag für Tag so viel von seine Leber verzehren, dass sein Körper sie gerade noch immer wieder nachwachsen

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lassen kann, dass so diese Qual bis in die Unendlichkeit fortgesetzt werden soll. In dieser Lage fühlen wir unser Herz, wenn die Weltnot jeden Tag an uns arbeitet und unser Innerstes stets aufs neue zer(fleischt?). Aber der Dichter Aeschylos hat diese uralte Form der Sage tiefer gefasst und den Schmerz des Körpers, den der Prometheus in seiner Seelenqual erlitt, in dem Geist, in das allerinnerste Leben dieses Mannes verpflanzt. Im Widerspruch gegen die Gottheit hatte sich der Feuerbringer für die Menschheit eingesetzt; und nun musste er sein tiefstes Leid durchkosten. In Verzweiflung musste er erleben, dass das Wesen der Gottheit in Ungerechtigkeit zu bestehen scheint, dass das Weltgeschehen nichts anderes ist als Blut und Dreck, dass die Gottheit, an die man glaubte, ein selbstsüchtiges, satanisches Wesen ist, das dem Menschen nichts Gutes gönnt. Den Halbgott-Halbmenschen, der es wagt, der Menschheit gegen den Willen der Gottheit etwas Gutes bringen zu wollen, will sie verderben. So hängt der Prometheus in seinen Fesseln am Felsen. Nicht nur darin besteht sein Leid, dass die Geier seine Leber zerfleischen, sondern viel tiefer liegt es. Es ist die innerste Verzweiflung des Geistes, die Gottverlassenheit, der radikale Zweifel, dass es keinen Gott geben kann, wenn ein solches Weltleid, eine solche Ungerechtigkeit wieder und wieder über die Menschheit verhängt ist, wie wir es heute erleben. Wo der Mensch verzweifelt, lebt kein Gott. Wenn wir verzweifeln, verzweifeln wir an Gott. Und wenn wir an Gott verzweifeln, verzweifeln wir an allem, an Menschen, an der Menschheit und am Leben. Immer gibt es Menschen, die verzweifeln. Und in uns allen schlummert jeden Tag von neuem die Gefahr, zu verzweifeln. Und doch gibt es immer Menschen, die Glauben haben. Und gerade der, der das Weltleid am tiefsten durchkostet hat, er, der wie Prometheus angeschmiedet war, nicht nur durch Ketten, sondern durch Nägel, er, der wie der Feuerbringer Prometheus der Menschheit das Herdfeuer, das Gesamtfeuer der Liebe und die Gotteserkenntnis auf die Erde gebracht hat, auch er musste ausrufen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Er hat tiefer gelitten als die Verzweiflung leidet. In dieser letzten Nacht der tiefsten Verlassenheit ist er hindurchgedrungen in die tiefste Tiefe der innersten Weltnot. Er ist zum Sieger geworden, weil er alles durchlitten hat. Er konnte beten für seine Feinde Und er konnte rufen: „Es ist vollbracht.“ Der Sieg ist geschehen, weil er an dem entscheidenden Platz, im Tode erfochten wurde. Es gibt eine Möglichkeit, in dem Erleben der tiefsten Weltnot-Angst, in dem Erleben des äußersten [Todessterbens] und der letzten Gottverlassenheit, dennoch zu glauben. Es gibt einen Sieg im äußersten Leiden. Das ist das Geheimnis der Hinrichtung, dort draußen vor Jerusalem, dass der Tod in seinen tiefsten Schrecken erlitten und überwunden wurde. Pascal, ein Franzose, hat es uns gesagt, dass in den Menschen diese Doppelheit der Gegensätze beschlossen liegt. Die Größe und das Elend. Ohne Gegengewicht würde die Erhöhung des menschlichen Bewusstseins unerträglich stolz, die Erniedrigung unerträglich verächtlich machen. In dem hingerichteten Jesus ist die fluchbeladene schmachvollste Erniedrigung zur Erhöhung höchster Berufung geworden. Pascal zeigt es uns, dass das Geheimnis des Lebens gerade darin besteht, dass wir die Größe und das Elend, das Elend und die Größe zusammen erleben: Die nur das Elend des Menschen betonen, die nur von der Gemeinheit des Menschen, von der Sünde des Menschen zu sagen wissen, die nur die Weltnot und weiter [nichts als diese] Not erkennen, die stürzen den Menschen in Verzweiflung und Nacht, sie schneiden ihn vom Leben ab, sie überlassen ihn dem Tode, sie führen ihn nicht zu Gott. Und umgekehrt, wenn es Religionen und Lebensvorstellungen gibt, die dem Menschen nichts anderes zu sagen haben, als seine Größe, seine Würde, die Hoheit seiner Berufung, den Idealismus seines Gedankenfluges und seiner Arbeitsaufgabe, so blasen die den Menschen auf in der Hoheit seiner Ichheit, die zum Zerplatzen und zum Untergang führen muss. Und eben deshalb bekennt sich dieser Pascal, der auch für Nietzsche Maßstab und Führer gewesen ist, zu Christus und sagt: Hier haben wir einen Führer und Erretter der Menschheit, der hat die Würde, die Größe des Menschen ebenso ernst genommen und ebenso wirklich zum Siege gebracht, wie er sein Elend und seine Not bis ins Letzte durchlitten hat. Hier ist wirkliche Führung. Denn hier erleben wir beides. Die Weltnot bis ins tiefste, und die Würde, die Größe, die Hoheit der Berufung bis ins höchste – beides bis zu Gott. Wir finden hier mehr als bei jenen anderen, die uns hoch stehen in ihrer Führung zu der Weltnot der Menschen. Wir wissen, dass Buddha ein vornehmer Mensch war, der auf seinen täglichen Ausfahrten der Weltnot in verschiedenen Gestalten begegnete. Und jedes Mal, wenn er die zusammenbrechenden Alten, wenn er dieses kranke Wesen Mensch oder gar den Sterbenden erblickte, ließ er die Wagenführer umwenden und im Galopp nachhause auf sein Schloss fahren, weil er die Not und das Elend, das Sterben der Menschen nicht sehen konnte. Es ging ihm wie dem Freiherrn von Rothschild, der immer große Umwege fahren ließ, um nur keiner Sorge begegnen zu müssen. Aber Buddha ist bei dieser Flucht nicht stehen geblieben, sondern dieser Wurm fraß in die Tiefe, und er musste grübeln und nachdenken, was ist das für ein Jammer, der die Menschen gepackt hat, und was haben wir zu tun, um diesem Elend der Menschen zu begegnen? Und er verließ sein Schloss und alle seine Reichtümer. Er ging den Weg des indischen Yogi, er ging den Weg der Einsamkeit und der Versenkung, er ging den Weg in die Stille. Dort fand er die Weisheit, die er den Weisen des Ostens verkündet hat. Jene Weisheit, die sie auch uns der Ermüdung unseres abgekämpften Abendlandes heute so nahe liegt, und er sagt den Menschen: Erkennet doch endlich, dass dieses Dasein mit seinem begehrlichen Willen und mit seiner Begierde, dieses Dasein mit dem immer erneuten Verlangen nach dem Leben eine unendliche Not, ein Jammer und ein Elend ohne aufhören ist. Überwindet dieses Dasein, indem ihr es verneint, in-

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dem ihr ihm absterbt, wendet euch weg von dem Ekel dieses körperlichen ungerechten leidenden Lebens und wendet euch hin in das reine Jenseits, wo nichts Körperliches mehr ist, wo es keine Begierde mehr gibt, wo es keine Unterscheidung der Gegenstände mehr geben kann! Wendet euch dorthin, in dieses heilige Etwas der eigentlichen Urseins, in dieses Nirwana, wo auch die Liebe aufhört, weil eben nichts anderes dort ist als das Sein des unergründlichen Geistes ohne die Sonderung in einzelne Wesen und in einzelne Dinge. Ja, wir sind wieder und wieder in Versuchung, auf die Wege Schopenhauers zu kommen und mit ihm den Optimismus für eine wahrhafte, ruchlose Denkungsweise zu erklären, weil der Optimismus, die Entscheidung, dass doch alles irgendwie gut oder irgendwie gut wäre, ein Verrat an der Wirklichkeit ist, letztlich eine Lüge in sich selbst enthüllt. Aber wiR empfinden es stets aufs neue, dass dieser irdische Weg, den Buddha gegangen ist, und den Schopenhauer uns neu gezeigt hat, nicht der Weg der Kraft und des wirklichen Lebens ist. Hier fehlt die Berufung der Letzten Würde, das aktiv schaffende Lebensbewusstsein. Hier fehlt die Berufung zu einer Zukunft einer Arbeitsgemeinschaft der Menschen, hier fehlt die Liebe der Solidarität in der Schaffenskraft der Lebensbejahung. Hier fehlt die Spannung der Wahrheit, die wir bei Pascal finden. Wohl ist das Mitleid mit dem Elend da und es ist das tiefe Entsagen bei Buddha, das wohl niemals in der Weltgeschichte des Geistes wieder übertroffen werden kann, aber es fehlt der tapfere Glaube an den Sieg der Berufung der Menschheit, der Glaube für die Erde. Es fehlt der Mut zur Tat, es fehlt die Aktivität der Liebe, die mehr ist als Mitleid, mehr ist als die Schwäche der überzarten Seele, die sich wieder und wieder in untätige Gefühle auflöst, weil sie den Jammer nicht anders ertragen kann. Bei Christus treibt Gott als die Liebe zum Nächsten das Böse, das Schlechte zu überwinden, die kranken Geister, die Todesgeister zu verdrängen durch die alles überströmende Liebe der kommenden Einheit des kommenden Reiches. Und das ist eben der Punkt, wo wir uns eins wissen mit all denen, auch wenn sie auf einer ganz materialistischen und atheistischen Lebensgrundlage zu stehen meinen, uns eins wissen mit denen, die an die Zukunft der Gerechtigkeit und die Zukunft der Gemeinsamkeit, an die Zukunft wirtschaftlicher Gemeinsamkeit glauben und so kehren wir am Schluss zum Anfangspunkt zurück. Der Einzelne wird aus der Not seiner eigenen Seele, die letztlich, wenn er ein tiefer Mensch ist, in Mitleid zerfließt, nur dadurch gerettet werden können, wenn er mit der großen Weltnot ganz eins, völlig solidarisch, innerlich völlig vereinigt wird. Er wird aus dieser Weltnot nur dadurch befreit werden können, dass er in Glaubensgemeinschaft mit dem gekreuzigten Christus und mit seiner Zukunft der Menschheit tritt, dass er mit ihm den Tod des Bösen, den Untergang der jetzigen Menschheit erleidet. So wird er eine, wo einmal diese zerklüftete Leiblichkeit des Bösen, dieser aus allen Wunden blutende Leib der nicht einheitlichen Menschheit zusammengewachsen sein wird, zu einer wirklichen Zelleneinheit eines wirklichen Organismus. Das Bild, was wir vorher wie eine kühne Ahnung vor uns sahen, dass der ganze Erdkörper einmal übersät sein könnte von den Leibern einzelner Lebewesen, die alle in einer gegenseitigen Beziehung untereinander und schließlich mit dem ganzen Erdkörper stünden – als einheitliches Leben der kosmischen Welt -, dieses Bild wird wahr werden auf der Erde. Sie wird von einer Menschheit bevölkert sein, die keinen Einzelnen mehr kennt, weil alle die Menschen in gegenseitige Beziehung zueinander gesetzt, von einem einheitlichen Geist beherrscht sein werden. Alle Not der Menschen wir durch die Glaubenskraft der Glaubenseinheit überwunden sein durch Gegenseitigkeit gemeinsamer Arbeit, durch Solidarität und Einheit des Lebens auf diesem Planeten Erde. So wird diese Erde eine große Einheit sein, eine Einheit des kommenden Geistes. In Christus ist der Tod überwunden. Die Verwesung und Vereinzelung wird unwirksam. Er ist aus dem Tode lebendig geworden. Nun wirkt er das Leben der Einheit in allen denen, die seinen Geist haben. So ist er ewiges Leben, das nicht vergeht. So ist er umfassendes Leben, das das einst alles in die Lebensverbindung aller hineinzieht. Als Geist ist er hier und wirkt jetzt dieses Leben. Als entscheidendes geschichtliches Gleichnis wird es auf dieser Erde aufleuchten in einer erneuerten und befreiten Menschheit. Drohender Mächte Gewalten verklingen. Der Friede kommt. Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen. Denkt in allen Dingen ganz um und glaubt an die Nachricht der Zukunft!