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Was nun!

EA 22/13

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Author Eberhard Arnold
Date January 01, 1922
Document Id 20126081_32_S
Available Transcriptions German

Was nun!

[Arnold, Eberhard and Emmy papers - P.M.S.]

EA 22/13

Das neue Werk

Was nun!

Ratlosigkeit und Gewißheit.

Unser Freund hat recht: Die gleichzeitige Behauptung und Verneinung derselben Sache in derselben Nummer des "Neuen Werkes" war ein uns allen bewußtes Anzeichen für eine innere Fragwürdigkeit der Neuwerkbewegung. Alles, was in unserem Arbeitskreis vor sich geht, weist auf etwas ganz anderes hin, was durchaus außerhalb jeder aus Menschen bestehenden Bewegung liegt. Der Götze des Neuen ist ebenso zertrümmert wie der des Alten, solange man unter dem Neuen irgend eine Form menschlicher Betätigung oder menschlicher Gemeinschaftsbildung versteht. Wer in irgend einem Neuwerkkreis oder in irgend einer Neuwerkgemeinschaft oder gar in einem "Neuwerkmenschen" das wahre Christentum, den neuen Geist, das Absolute sehen wollte, muß daran ebenso zuschanden werden wie an allem anderen Götzentum. Menschenverehrung, Selbstzufriedenheit und Sattheit ist im religiösen Leben gerade das, das Jesus am schärfsten bekämpft hat. Wem es etwa um neuen religiösen Besitz, um eigenes neues Werk gegangen ist, der wird hier wie überall die Geringfügigkeit alles Menschlichen längst erkannt haben oder bald erkennen müssen.

Es gibt keine perfektionistische Gemeinschaft, es gibt keine reine Brudergemeinschaft, keine staatsfreie Gemeinschaft, keine freie Schulgemeinde, die außerhalb der Gesamt-Schuld, außerhalb des Kapitalismus, außerhalb des Kirchen- und Sekten-Fluches, außerhalb von Gewalttat und Verdrängung der anderen, außerhalb von Unwahrhaftigkeit in der Lebenshaltung, außerhalb der Unreinheit des menschlichen Lebens stünde. Es gibt keine Flucht, die uns diesen Dingen irgendwie entziehen könnte. Es gibt nirgends eine Erleichterung dieses Kampfes; auch in Gemeinschaftssiedlungen oder in "absoluter" Einsamkeit ist es nicht besser und leichter als in der Großstadt. Es steht fest: Die Neuen haben alle garnichts vor den Alten voraus. Überall schlägt uns das gleiche Gericht. Überall leuchtet uns dieselbe Gottesgnade. Aber auf die Gewißheit dieser Gnade kommt es an, bis in die praktische, alltägliche, so ganz kleine Frage hinein, wohin, an welchen Platz ein jeder mit seiner Kleinarbeit gehört.

Der Verfasser des voranstehenden Aufsatzes ist sich dessen gewiß; aber er muß anderen einen anderen Platz mit derselben den anderen gegebenen Gewißheit zugestehen. Warum soll ein Bankbeamter nicht irgendeine Bank verlassen können, um seine organisatorische Finanzbegabung in einer Siedlung zu betätigen, wenn er auch dort im Bewußtsein des Schuldzusammenhanges und zugleich im Dienstzusammenhang mit allen anderen Menschen seine Arbeit leistet? Der großstädtische Dienst mag ja manchem stärker und unmittelbarer mit aller Not verknüpft erscheinen. Man kann das verschieden sehen. Aber es sind nicht alle Propheten, nicht alle Apostel, nicht alle Lehrer, nicht alle Hirten; aber es ist derselbe Geist, der in allen Gaben, der in jedem scheinbar noch so abgelegenen Dienst wirkt. Auch

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wenn Gabe und Dienst noch so geringfügig sind: Jesus hat nicht umsonst nach dem kleinsten Saatkorn gesucht, um an ihm die Wirkung des Glaubens an Gott und des Reiches Gottes zu veranschaulichen. Auch dem kleinsten Sandkorn in einer unzählbaren Sandmenge am Meere ist Gott nahe. Je weniger tragisch wir Unterschiede und Verschiedenheiten unter Menschen und zwischen Menschen nehmen, umso mehr Vertrauen können wir fassen, daß die neue Erschütterung von Gott her um sich greift. Die Erwartung der Weltumwandlung lenkt den Blick auf Gott, indem sie alles Menschenwerk gleichgültig macht oder vernichtet.

Was der voranstehende Aufsatz "Was nun?" andeutet, ist in der Neuwerkjugend in den letzten Monaten wieder und wieder in erschütternder Gewalt zum Ausdruck gekommen. Der Glaube an Christus für die ganze Welt läßt keine Beschränkung mehr auf religiöse Spezialgebiete zu. Man erkennt, daß es nicht der glaubende Mensch, sondern Christus ist, der Berge versetzt. So wird jeder Optimismus der Welt gegenüber ebenso unmöglich wie ein weltabgewandtes Schwärmertum, ein Menschenglaube an das neue Werden der neuen Jugend ebenso unmöglich, wie ein Menschenglaube an eine jetzt unter uns entstehende neue Kultur. Man verzweifelt an dem unter Menschen Werdenden ebenso wie an dem unter Menschen Altgewordenen. Ein radikaler Lebenspessimismus droht.

Die Jugend kommt mehr und mehr von der Einbildung los, das göttliche Licht könnte jetzt irgendwo, bei irgendwelchen Menschen ungebrochen in Erscheinung treten. Wer unter anderen Dingen Siedlungen, soziale Arbeitsgemeinschaften, Lebensgemeinschaften irgendwelcher Art so absolut aufgefaßt hat, ist gründlich im Irrtum gewesen. Das Leben des Christus ist auch heute immer und überall ungebrochen; im Menschen und in seinen Arbeiten und Treiben ist es immer gebrochen. Am Schlimmsten ist es um das ungesundeste Schwärmen bestellt, das hier und da Geschlechtsbeziehungen ohne jede Begehrlichkeit oder gar als Darstellung des Christus behaupten konnte. Hin und her traf man Schweifende, die eine menschliche und doch unverfälschte Verwirklichung des Geistes Christi, eine völlige Gestaltung seiner Liebe unter den Menschen vertreten wollten, ─ als wenn Menschen einen unbedingten Liebeskommunismus, eine völlig reine gewaltlose Liebe aufbauen könnten. Wo man jedoch zu wirklichem Zusammenleben von Menschen, zu nüchterner Alltagsarbeit schritt, konnte diese Phantasie nicht aufkommen. Wo man von Christus her zu praktischer Lebensgemeinschaft gedrängt wurde, lag diese Einbildung fern. Die notwendige Gebrochenheit besteht in der Mischung zwischen natürlich menschlichen Energien und der reinen Gotteskraft, in der nur Christus ─ niemals ein Mensch oder sein Trieb ─ die Gemeinde aufbaut. Es handelt sich um den natürlich-organischen Trieb der Entfaltung und der Wahlverwandtschaft, zugleich aber um den ganz anderen, von Gott herkommenden, wachstümlichen Drang des einigenden Geistes, der immer gemeinschaftsbildend wirkt, ohne exklusiv zu sein.

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Für unsere Neuwerkkreise ist es klar: Es gibt keine Menschen und Menschengruppen, die irgendwie menschlich besser, religiös höher oder gar exklusiv reiner sein könnte als alle die anderen rund umher. Nirgends kommt heute das Reich Gottes so in die äußere Erscheinung, daß etwa irgendwo Menschen ganz unkapitalistisch, ganz gewaltlos, nichts schädigend, unmittelbar wahrhaftig, völlig rein, unbedingt liebend geworden wären. ─ An keinem Ort der jetzigen Erde, in keiner Form des jetzigen Zusammenlebens wird Christus rein und unverfälscht zur Gestaltung gebracht. Kein Glaube, den Menschen aufbringen, kann die gegebene Form der Wirklichkeit verändern. Man muß im einzelnen klar sehen: Besitzlosigkeit oder Gewaltlosigkeit, oder ein anderes Tun oder Nichttun der Menschen ist nichts, wodurch die finstere Macht in uns und um uns überwunden werden könnte. Freiwillige Armut muß sein; aber sie ist sich klar, daß sie eine wirksame innere Gewalt auf alle die ausübt, die irgendwie unterstützend eingreifen müssen. Autonome Erziehung ist Hilfe; aber sie schließt irgend eine Rücksichtslosigkeit gegen Lehrkräfte oder gegen andere Menschen in sich, die unter den noch "Unerzogenen" oder "Ungezogenen" zu leiden haben. Wo man sich ohne Widerstand bestehlen läßt oder ohne Rechtshilfe bedrücken läßt, kann Gotteswirkung da sein; aber oft fördert man gerade dadurch lügnerische Gewalten. Selbst die Militärdienstverweigerung, die ein notwendiges Zeugnis ist, unterstützt Gewalt, wenn diese Gewalt diejenigen bedroht, die ohne uns schutzlos sind. Auch der Lebensreformer und Vegetarier kann nicht ohne Gifte und ohne Schädigung anderer Lebewesen existieren. Der radikale Revolutionär, der nach innerstem Auftrag für die Gerechtigkeit und für die Liebe kämpft, muß immer wieder gegen Gerechtigkeit und gegen Liebe verstoßen, um ─ zuerst einmal Vorläufiges zu erreichen.

Viele von uns fühlen sich wie in Stücke zerrissen von dieser Spannung, daß sie in dieser Welt arbeiten und leben müssen, und doch zugleich am wahren Leben und Wirken von sich aus verzweifeln müssen. Selbst Jesus scheint manchem unter diesem Schicksal zu stehen, weil auch er durch die Arbeit anderer ernährt wurde, auch er die Heiden zunächst beiseite ließ, um zuerst seinem Volk zu helfen, weil auch er seine Freunde aufforderte, Ähren abzureißen, weil auch er einen Baum verdorren ließ, und sogar selbst zur Geißel gegriffen hat. Eins ist gewiß: Jesus versuchte keine kleinen Reformen oder größere Reformationen der jetzigen Wirklichkeit; sondern er forderte vom Innersten her bis ins äußerste eine völlige Umgestaltung, und so eine Bereitschaft für die Neuschöpfung der ganzen Weltform. Und doch ist Jesus der einzige Ansatz des Neuen. Denn wo er war, gab es Erlösung von Besitz und Gewalt, gab es Heilung von Krankheit, gab es Auferstehung der Toten. Bei ihm zeigt es sich, daß es nicht darauf ankommt, ob etwas anderes "geschädigt" und "verdrängt" wird, sondern vielmehr darauf, wer es ist, der dies tut, und ob und in welchem Sinne er Vollmacht hat. Die Vollmacht Jesu bringt im Gericht

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Aufrichtung und Erlösung. Gewiß sein Leben, sein Sterben und Auferstehen war weder ihm selbst noch für seine erste Gemeinde das Letzte. Aber es war für die zu erwartende neue Schöpfung das entscheidende Saatkorn und deshalb unbedingte Bürgschaft. Diese Bürgschaft war ein Unterpfand, das man ergreifen konnte, ein Siegel, von dem man in Beschlag genommen wurde. Der ewige unveränderliche Geist wirkte als gegenwärtige Kraft aus diesem in die Erde gesunkenen Weizenkorn den Glauben an den zukünftigen wiederkommenden Christus, an die Frucht seiner Ernte: ─ die Erwartung einer von Grund aus neuen Kultur, die Menschen niemals bauen können, ─ die Hoffnung auf die Neuschöpfung der Welt. Diese Wirkung des Geistes war nur möglich in der Hinrichtung des Menschen, in dem Ersäufen und Verbrennen der menschlichen Dinge, im Kreuz und im Grab Christi. Sie war nur möglich in der Gegenwart des Lebendigen, des Auferstandenen, die der Gemeinde überall und immer gewiß war. Die Gemeinde lebt stets und an allen Orten am Rande der Relativitäten; das Absolute erreicht sie überall; denn sie hat keinen anderen Glauben als Gott selbst. Ihr Leben ist Christus. Jede Einbildung eigenen Könnens vergeht ihr immer wieder als Glaube an diese Welt; aber ihr werden in Christus immer neue Wege der Hingabe, der Weihe, der Liebe, der Gemeinschaft, der Arbeit, der Armut geschenkt. Von Christus aus gibt es kein einfaches Mittun im Alten und kein einfaches Machen des Neuen. Er ist ein stets neuer Glaube. Er ist das stets neue Wagnis der Liebe. Er ist die stets neue Spannung der Hoffnung. Darauf kommt es an, aus welchem Antrieb wir leben. Der Geist, der in der Gemeinde wirkt, entfaltet sich jung und frisch organisch und macht durch sein Wachsen von den Dingen frei, ob sie nun alt oder neu genannt werden. Er bewirkt eine Gemeinschaft des Lebens, die weder Menschen bezwecken noch herbeiführen können, indem er alle, die ihm offen sind, mit der Liebe Christi verbindet. Der Geist drängt zum Kindwerden und zum freien Vertrauen der Gottesliebe. Sein Wind ist etwas Wehendes, was jeden Augenblick neu kommen muß. Nur so ist Gemeinschaft. So gibt es in der Gemeinde Christi kein religiöses Besitztum. Was dinglich oder systematisch feste Form angenommen hat, ist vereist. Es ist kein Wind mehr. Der Mensch und die von ihm geformte religiöse Arbeit ist nicht der Geist, weder im Alten noch im Neuen. Der Geist ist niemals Erworbenes, was hinter uns und in uns liegen könnte. Das einzig Kostbare, die eine Perle, liegt immer vor uns, auch und gerade dann, wenn wir alles vergessen oder alles verkaufen, was hinter uns lag. Die unerträgliche Gebrochenheit in der Welt ist also auch das Kennzeichen derer, die von dem Zeugnis der Gemeinde ergriffen sind. Ja, an ihnen wird diese Zerbrochenheit am erschreckendsten zutage treten. Denn das Zeichen der Hinrichtung ist ihrem Wesen aufgeprägt. Aber zugleich ist eine Macht da, die ganz anders ist als Tod und Gericht allein: Das Leben, das von Gott kommt, dem wir uns nur immer erneut öffnen können. Der Ruf

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des Auferstandenen, auf den wir nur immer erneut aufhorchen können: Ich bin bei Euch! Geht in alle Welt! Sagt alles, was ich gesagt habe! ─ was ich euch befohlen habe, daß ihr es tut! Bergpredigt und Jesusnachfolge wird in dem Auferstandenen stets von neuem geschenkt, gerade wo man immer wieder darin zuschanden geworden war. Dieses Wagnis des Glaubens ist in seinem Tun gespanntestes Ausschauen auf die kommende Katastrophe über das Bestehende, auf die letzte Erlösung und Wiedergeburt der Menschheit und der Erde. Diese letzte Erwartung ist Gegenwartskraft, die nicht im Menschen liegt, die niemand festhalten kann, die von niemandem erworben werden kann, ─ die uns eben deshalb geschenkt wird. Wo es uns am schlechtesten geht in uns selbst, ist dieses Geschenk am größten. Es drängt uns immer aufs neue weg von den Unwahrhaftigkeiten, die unser eigenes Wesen ausmachen, von den Unreinheiten, in denen wir ertrinken, von dem begehrlichen Willen, der uns tyrannisiert, von der mörderischen Schädigung aller, deren wir alle schuldig sind ─ immer wieder hinweg von allen diesen Dingen, die wir doch nie loswerden ─ immer wieder hin zu der Reinheit, zu der Wahrhaftigkeit, zu der Freiheit von Besitz und Begierde, zu der schenkenden Liebeskraft, die wir niemals selber sind, die wir niemals fest in der Hand haben, die aber doch immer da ist; weil Er alle Tage bei uns ist; weil Er in seiner Gemeinde ist, Er, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf der Erde! Deshalb kann es für die Neuwerksache auf die Frage "Was nun?" nur die eine Antwort geben: "Ratlosigkeit und Gewißheit! Hinweg von allem anderen! Hin zu Christus! Und so hin zu den Menschen! Verschließen wir uns allen Einflüssen der Menschen und öffnen wir uns der einen außermenschlichen Macht, aus der wir allein geboren werden!" Dann werden wir immer wieder in diese Welt hineingesandt. Es müssen immer wieder Wege der nüchternen Arbeit gefunden werden. Wir werden immer wieder in Schuld und Not verstrickt, doch immer wieder abgewandt und gereinigt von den toten Werken, von dem Willen zu sündigen, hingewandt zu denen, die mit uns Sünder sind, eins und solidarisch mit denen allen, die arm, klein, durstig und hungrig bleiben, weil sie nichts in sich selber haben, sondern alles von Gott, von Christus erwarten für jetzt und hier und für alle Ewigkeit.