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An eine Gemeinschafts-Christin

EA 25/15

Additional Information
Author Eberhard Arnold
Date October 01, 1925
Document Id 20126083_07_S
Available Transcriptions German

An eine Gemeinschafts-Christin

[Arnold, Eberhard and Emmy papers - P.M.S.]

Die Wegwarte, Oktober/November 1925

S. 101

An eine Gemeinschafts-Christin

Wir können die Sündenvergebung nie zu stark in den Vordergrund stellen. Ich bin vielmehr der Meinung, daß man sie überhaupt nicht zu stark betonen kann. In der Vergebung der Schuld, in der Erlösung von dem Bösen in der Vergangenheit, wie in der Lösung von dem Bösen in der Gegenwart, liegt ja das Leben selbst, der ganze Gott mit seinem ganzen Herzen. Was ich scharf bekämpfe, ist das ganz Andere: Daß man trotz des Erlebnisses der Sündenvergebung von diesem großen Herzen Gottes weg in das kleine Herz verstrickt bleibt, daß man in der persönlichen Erfahrung ganz in das kleine persönliche Eigenleben versinkt, das man also ein neues Ich-Leben des eigenen Rein- Werdens, Besser-Werdens und Glücklich- Werdens in den Mittelpunkt der Frömmigkeit stellt, ja daß auch die Arbeit an den Anderen nur ihr Glück im Auge hat. In diesem verkehrten Subjektivismus des Ich-Lebens widmet man sich nur dem eigenen kleinen Ich oder dem kleinen Ich des Nachbarn. . . Ebenso wie es unmöglich ist, die Sündenvergebung zu stark zu betonen, so ist es auch unmöglich, das Reich Gottes und die Bergpredigt zu stark zu betonen. In einem so umfassenden Wort wie die Bergrede ist der Charakter der Herrschaft Gottes, der Charakter seiner Reichsgenossen, so deutlich gekennzeichnet, daß wir heutigen Christen als ungehorsam und ungläubig offenbar werden, als solche, die sich dem großen Aufleuchten der Zukunft Gottes entziehen. In Wahrheit aber ist die Gemeinde Christi bestimmt, diesem Charakter des Kommenden zu entsprechen. Die Vergebung meint das Reich. Gott und sein Reich muß uns groß werden, so daß wir selbst in unserem eigenen religiösen Leben klein werden.

Wir vergessen oft, daß die persönliche Wiedergeburt im dritten Kapitel des Johannesevangeliums in den überpersönlichen Zusammenhang des Reiches Gottes gestellt ist. Das kommende Reich ist das Bestimmende in der Bibel. Von diesem Zukünftigen müssen wir ganz überwältigt und ganz erfüllt werden. Der heilige Geist will uns dahin führen, die Worte Jesu für die zukünftige Welt lebendig zu machen; ein lebendiges Beispiel, ein Gleichnis, ein Anschauungszeugnis des kommenden Reiches zu werden. Ich bezweifle aber eine Wiedergeburt, die keine Beziehung zu dem kommenden Reich Gottes hat. Ich glaube an die Erweckung von Gott bei

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vielen, die für das kommende Reich offen geworden und die über ihre persönliche Vergebung und Heiligung noch im Unklaren sind. Die Hingebung an die wahrhaft Hungernden und von Gott erweckten Menschen, muß uns dahin führen daß wir Hunger nach Gerechtigkeit, Durst nach der Liebe Gottes, Warten auf das Kommen Gottes dort erkennen und anerkennen, wo es ist. Es muß uns die Kraft geschenkt werden, so Wachenden und Werdenden die Wiedergeburt aus dem heiligen Geist zu bezeugen, wie Jesus es dem Nikodemus sagte, der einer dieser vom Reich ergriffenen Menschen war, wie es unsere heutigen Jugendbewegler und religiösen Sozialisten sind. Ebenso aber müssen wir den Christen von ihrem persönlichen Leben aus die Größe der Verantwortung gegenüber der sozialen Gerechtigkeit des Gottes-Reichs, gegenüber dem kommenden Friedensreiche Jesu Christi und deshalb gegenüber den Forderungen und Versprechungen seiner Bergpredigt klar und bestimmt bezeugen, wie das Jesus besonders seinem engsten Jüngerkreis gegenüber getan hat.

Das Geschichtliche in der Gemeinde können wir als Beispiel heranziehen, und darauf hinweisen, daß die Lutheraner und die Zwinglianer, die gläubigen Katholiken, wie zum Beispiel Staupitz, die biblizistischen Schwenckfeld-Leute des Heiligen Geistes, die kommunistisch friedensgesinnten Täufergemeinden und noch viele andere Farbengruppen der Reformationszeit von Gott und für den gläubigen Blick eine wirkliche Einheit waren, obgleich sie sich in der menschlichen Verblendung zu ihrer Zeit gegenseitig bekämpften und ausschlossen und in der gegenseitigen Feststellung ihrer menschlichen Fehler immer wieder Grund fanden, die anderen zu verketzern. Eine ähnliche geschichtliche Lage werden wir bald in der heutigen Zeit haben. Welcher Christ möchte zu denen gehören, die einmal, wenn sie andere Augen haben, beklagen müssen, daß sie die Einheit über den Unterschieden verleugnet haben? An der Einheit soll die große Welt erkennen, daß Jesus von Gott gesandt ist. ...