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Published Manuscript
Der Einzelne und die Weltnot 2. Teil
EA 27/02
Additional Information | |
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Author | Eberhard Arnold |
Date | December 01, 1927 |
Document Id | 20126083_37_S |
[Arnold, Eberhard and Emmy papers - P.M.S.]
Die Wegwarte, 2.Teil, 4. Jahrgang, 3. Heft, Dezember 1927
Die scheinbare Doppelerscheinung der Not ist im Grunde ein und dieselbe Krankheit, die Vereinzelung als Weltnot und die Weltnot als Vereinzelung. So nur können wir die Not der Welt erkennen. So nur können wir als Einzelne mit dieser Not verbunden und in ihr alle vereint zum Glau-ben an ihre Überwindung kommen. Es wäre keine Weltnot da, wenn es keine Vereinzelten gäbe, die sich, anstatt sich ihr hinzugeben, ihr entziehen wollen. Solange Weltnot besteht, gibt es keinen vereinzelten Menschen, der sich von ihr befreien könnte oder unschuldig an ihr wäre.
Jeden Tropfen "Leben", und sei es der schmutzigste, muß unsere von Leid und Not durchglühte Zeit aufsaugen und festhalten, weil sie im Sterben liegt. Wie jeder Sterbende, so müssen auch wir Menschen des heutigen Untergangs uns an unsere Schmerzen, an alle unsere letzten Nöte hängen, weil das Leben uns nichts anderes gelassen hat, woran wir uns, halten könnten. Das Ziel lebendigen Lebens wird noch nicht gesehen. Der Glaube bleibt noch ohne seinen Gegenstand. Er ist Nicht Glaube geblieben. So kennt der gequälte Dichter unserer Zeit weder das Ziel noch den Gott, der ihm wartend und zukunftgebend gegenübersteht: "Mein Richter, ich weiß nichts vom kommenden Tag, von jenem Tag, nicht, ob du wirst zu Gerichte sitzen, mein Richter! — Aber deinen Gerichtstag fürchte ich nicht, deine Erhabenheit nicht, dich nicht, mein Richter! Mich fürchte ich, ich fürchte mich, Mich. Ich weiß nicht, ob du bist, mein Richter; aber ich wünsche, daß du bist, mein Richter."
Man bleibt trotz aller Sehnsucht in der Vereinzelung seines gequälten Ich. Man fühlt sich gedrängt, mit allen zu dulden, ja mit ihnen den Tod zu erleiden. Überall quillt die Sehnsucht nach Liebe; und doch fehlt die Kraft und Möglichkeit, wirklich lieb zu haben, wahrhaft treu zu sein der Tat: Ich bin so zugebaut! Und alles rauscht nach Liebe. Ich auch nach Liebe weine und hab' doch keinen gern. Die "Liebe" kommt nicht zur Tat. Sie ist noch Un Liebe geblieben. Sie kann sich trotz aller Schwüle und Schwere des Ausdrucks noch nicht über das süßliche Genießen des Schmerzes, über das Mitleid der Schwächlichkeit erheben.
Erst wenn aus dem gefühligen Leid die schaffende Liebe geboren sein wird, erst wenn unser Leben von der Tatforderung der Einheit erfüllt sein wird, nur wenn das Gewissen von Gott aus aktiv wird, nur wenn ihm letzte Gewißheit tatsächlicher Erfüllung innewohnt, können den Klagen der Not: "So sollte es nicht sein," "So dürfte es nicht sein," die glaubensgewissen Sätze der Freiheit entgegengestellt werden: "So wird es nicht bleiben". "Das Leben ist stärker als der Tod".
Aber wir bleiben der Gewißheit dieses kommenden Aufgangs fern, weil wir die Dunkelheit der Nacht in ihrer undurchdringlichen Finsternis, in allem ihrem unergründlichen Leid nicht wirklich erlebt haben, obgleich wir vielleicht dem Gefühl "den Tod der ganzen Welt erleben, in jedem Lumpen ster-ben, in jeder Katz, in jedem Gaul verrecken, als Soldat in der Dürre verderben, als Sträfling im Zuchthaus verenden.” Vielleicht ist mancher unter uns bis zu dem persönlichen Mitempfinden gelangt, daß er sagen könnte: "Ich weiß das Gefühl von einsamen Harfenistinnen in Kurkapel-
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len, das Gefühl von Debütanten, die sich zitternd vor den Soufleurkasten stellen. Ich lebte im Walde, hatte ein Bahnhofsamt, saß gebeugt über Kassabücher und bediente ungeduldige Gäste. Als Heizer stand ich vor Kesseln, das Antlitz grell überflammt, und als Kuli aß ich Abfall und Küchenreste."
Vielleicht meinen wir in diesem empfindungsstarken Hineinfühlen in die Not der anderen aus unserer vereinzelten Einsamkeit, die nur das eigne "Ich bin" gekannt hatte, herausgehoben zu sein. Vielleicht wissen wir davon zu sagen, was es heißt "Sich mit der Seele der Welt vereinen", "im müden Droschkengaul, im ertrinkenden Seemann, im hungernden Fabrikarbeiterkind den Tod der ganzen Welt in tausendfacher Qual umschließen".
Jeder, den diese Empfindungen erschüttern und bewegen, ahnt aufdämmernd den Willen des Geistes. Aber es geht um mehr als um Gefühlsgemeinschaft mit dem leidenden "Allgeist", den man so gern anreden möchte, obgleich man zu ihm nicht "du" sondern nur mit "wir" sagen kann: "Ich nenne dich und sage von den Dingen: Wir sind." Die wahllose Umarmung, die mit allen Dingen in die seelische Schwingung des "wir" übergehen möchte, bleibt noch in der Sphäre der erotischen Sehnsucht, die alles in allen Geschöpfen im Schmerzgenuß nacherleben will, bleibt noch in dem Verlangen des eigenen, unersättlichen Lebensgefühls, das in aller grenzenlosen Ausdehnung des Mitleidens dennoch wieder den unstillbaren Lebenshunger nach eigener Machterweiterung befriedigen will. Auch hier bleibt der Satz des Uregoismus bestehen: Alles, alles kann ich. - Aber— "mich selbst opfere ich nicht". Nur wenn wir den praktischen Opferweg betreten, kann die Macht des vereinzelten gefühlslüsternen Ich gebrochen werden. Auch in unserem lebendigen Körper kann das Leben nur durch stets erneute Opferung lebendiger Teilchen behauptet und gewonnen werden. Auch dort wird der Opfertod des Einzelnen gefordert, damit das Leben des Ganzen gerettet und erneuert wird.
Das wirkliche Einswerden mit allen den abgehärmten kaum noch dahinlebenden Millionen Unterdrückter, die unter der Lebenslast und Todessorge "keuchen, dampfen und stampfen", kann nur in hartem, persönlichem Teilen der Not erstehen, wenn wir selbst im täglichen Zusammenleben mit den körperlich Dahinwelkenden, den geistig Zugrundegehenden und den seelisch Verderbenden ihren nur allzu tatsächlichen Schrecken ausgesetzt sind. Das maßlose Leid der Welt, die ungelöste Not des Menschen zu umfassen, kann nur auf dem praktischen Weg des Miterleidens der Armut, Schande und Entbehrung gegeben sein, bevor es als Sache tiefster Innerlichkeit zum Wort werden kann. Wenn man es wagt, Leiden und Leben mit denen zu teilen die der äußersten Not ausgesetzt sind, wird man das Wort Schopenhauers begreifen lernen: "Der Optimismus ist eine wahrhaft ruchlose Denkungsart, ist ein Hohn auf die namenlosen Leiden, der Menschheit." Jedes eigene Genießen des Guten in der Welt, der Freude am Leben oder gar der "Gerechtigkeit der Weltgeschichte" wird unmöglich, wenn man mit dem ungerechten Leid der Masse in realem Zusammensein gereinigt ist.
Alle unsere heutigen Versuche, uns wie etwa mit unserem hier zu Worte gekommenen Zeitgenossen Franz Werfel in den Sumpf des Mitleidens zu versenken, unterscheiden sich nur durch das umgekehrte Vorzeichen von
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diesem genießerischem Optimismus. Auch der Pessimismus wird zum Genuß des Einzelnen in einer empfindsam ins Weite entfalteten Seele. Unser eigenes Seelenleben kommt auch auf diesem Wege nicht zur Lösung der Not. Es offenbart in allen diesen Bemühungen nur immer tiefer die Unechtheit seiner Empfindungen, die Gespaltenheit und Zerrissenheit des Eigenen. Die Weltnot bricht als unerlöste Ich Entfaltung im Einzelnen von neuem hervor.
Die umfassende Weltnot des Menschen stürzt und ballt sich in das unerlöste Leid seiner eigenen Kleinheit. Was den Einzelnen im Kosmos peinigt, quält ihn über alles andere hinaus in sich selbst. Was er in der Welt so schmerzlich vermißt, muß er in seiner eigenen Seele stöhnend entbehren. So verschwimmt das Emporquellen jenes vergeblich suchenden Trachtens, das Ich mit der ganzen Welt in ungehemmte Einheit zu verschmelzen. Zwischen dem Ich und der Umwelt soll jede Schranke fallen, weil die Weltnot das Einzelleid ist. Und in der Tat: die Welt des Zwiespalts, die Welt des Kampfes und Hasses, die Welt der Zerrissenheit und der Zerstörung, sie lebt unerlöst in jedem Einzelnen nicht weniger als in den Kriegen, Klassenkämpfen und Wirtschaftskämpfen der großen Welt.
Deshalb fürchtet der sich selbst erkennende Geist letztlich sich selbst. Deshalb schreit sein Gebet zum Vater auf "Befreie mich, reinige mich, mein Vater, töte diesen Feind, töte mich, ertränke diesen Mich." Er muß sich selbst anklagen, sich selber bis zum fanatisch festgesogenen Haß gegen sich selbst verurteilen: "Sie schalten mich: Scheinmensch, charakterlos, eitel, träge, gleichgültig, zu klein zur Sünde, zu gering zu Wohltat, schwach im Frevel und wertlos in der Rolle, und ich hörte sie, und fuhr gegen mich und gab ihnen recht— und muß mich hassen."
Jeder heutige Mensch weiß sich unselig als einen mit sich selbst Entzweiten und in sich selbst Zwiefachen. In seiner eigenen Brust weiß er den Feind, dem er entgegen speit, weil dieser ihn berennt, weil dieser das Gut seiner Seele verpraßt, weil dieser sein Gewissen zerstört und seine Liebe erstickt, weil dieser ihn zu jeder Niedrigkeit v erleidet, so daß er in seiner Qual ausrufen muß: "Warum hast du mich mit diesem Elend erschaffen, mein Vater, warum mich zu dieser Zweiheit gemacht? Warum gabst du mir nicht Einheit und Reinheit? Reinige, einige mich, o du Gewässer! Siehe, es wehklagen alle deine wissenden Kinder seit eh und eh über die Zahl Zwei." Die Zwei statt der Eins ist der Fluch unserer Not. Entzweiung in der Vereinzelung ist die Not der Welt.
Die allgemeine Weltnot unserer Tage steht in unlöslichem Zusammenhang mit dem Schuldgefühl der eigenen Zerrissenheit des Einzelnen. Es ist die Todesschwäche der Sünde als Sonderung, die Lebenskraft der Liebe verzehrt. Es ist der Fluch der Halbheit und Zwiespältigkeit, der die Entscheidung und Erfüllung verschließt. Das Weltleid des öffentlichen Lebens steht im Gleichklang mit der persönlichen Schuld der Einzelnen. Hier müssen sich uns die düsteren Worte Schopenhauers, aufdrängen: "Will man wissen, was die Menschen, moralisch betrachtet, im großen und allgemeinen wert sind, so betrachte man ihr Schicksal im großen und allgemeinen. Dieses ist Mangel, Elend, Jammer, Qual und Tod. Wären sie nicht, im ganzen genommen, so nichtswürdig, so würde ihr Schicksal im ganzen genommen, nicht so traurig sein. Könnte man allen Jammer der Welt in eine
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Waagschale legen und alle Schuld der Welt in eine andere, so würde gewiß die Zunge einstehen."
Der Zwiespalt zwischen Sollen und Sein, das Auseinanderklaffen zwischen der unmittelbaren Berufung des Menschen und der unerbittlichen Tatsächlichkeit seiner gegenwärtigen Erscheinung nötigt uns immer wieder die Frage auf: Wo liegt die Todeswunde des Lebens? Wodurch ist das Leben vergiftet worden? Gibt es eine Giftwurzel, aus der alles Leid erstanden ist? Gibt es eine Giftquelle der Qual, aus der die Todeswunde der Weltnot unstillbar verbluten muß,— unstillbar, wenn keine Heilung kommt?
Niemand hat das Leid der Menschen so empfunden wie Jesus. Und er ist es, der wie niemand anders die Wurzel des Leides durchschaut und aufgedeckt hat. Er kannte die Not des Menschen wie kein anderer. Er wußte, daß diese Not ihre tiefste Wurzel im gespaltenen Herzen, im zwiespältigen Innern des Menschen hat. Er entdeckte das Herz des Menschen; er enthüllte die Vergiftung des Herzens als Sonderung und Abkehr, als Zerfall und Ablösung. Diese Blutvergiftung des Menschen geht so tief auf den Grund und umfaßt so allgemein alle Menschen, daß es unmöglich ist, etwa im einzelnen die Schwere der persönlichen Schuld nach der Größe des Leids bemessen zu wollen. Auf jene Schreckensnachricht, daß durch Pilatus Ströme von Menschenblut mit dem Opferblut der Schlachttiere vermengt wurden, hat Jesus es ausgesprochen: "Meint Ihr, daß diese Galiläer mehr als alle andern Galiläer Sünder waren, weil sie diese Schrecken erlitten haben oder meint Ihr, daß jene achtzehn, die der Turm in seinem Zusammensturz erschlagen hat, mehr schuldig gewesen wären als alle andern Bewohner von Jerusalem? Ich sage: Durchaus nicht! Wenn ihr nicht von Grund aus anders werdet, werdet ihr alle ebenso umkommen."
Daß unser gesamtes Leben, daß unser aller Leben in seinem ganzen Zusammenhang so verwesend verfallen, so vergiftet im Tode ist, daß kein öffentlich Gerichteter schuldiger sein kann als wir selbst schuldig sind, daß wir alle die endgültig Gerichteten sind, daß der "unschuldig" Ermordete schuldig ist wie der Mörder, — diese Einsicht ist der entscheidende Schritt zur Rückkehr des Lebens. Das "Leben", wie wir es bis heute leben, unser ganzes Leben selbst müssen wir als alles auflösendes und verderbliches Unrecht erkennen, als ein persönliches Unrecht, das zugleich und ebenso all-gemeinstes Unrecht, als unsere eigne Schuld an der Todesnot der ganzen Welt anerkennen: - dies umfassendste und persönlichste Schuldbekenntnis ist der letzte und entscheidende Schritt, den wir Menschen tun können.
Das letzte und entscheidende Leid ist diese Not des Gewissens. Wir alle wissen von Luther, welche Qualen er in seinem schwarzen Turm durchlebt hat, so unsagbar schwer, daß sie nicht in Worte zu fassen waren. Wer Luthers Not der Sonderung, Verlassenheit und Verzweiflung nicht kennt, kann Luthers Glauben nicht begreifen. Nur diese Pein vor Gottes Zorn und Ferne läßt es verstehen, was die Sicherheit und Freude im Glauben bedeutete, die als ganz Neues in Luther hervorgerufen wurde: "Auch ich kenne einen Menschen, der es versichert hat, er habe diese Qualen öfters erlitten, sie hätten zwar eine sehr kurze Zeit gedauert, sie wären aber so groß und höllisch gewesen, daß deren Größe keine Zunge aussprechen, keine Feder beschreiben, noch der es nicht erfahren, glauben könne; also, wenn sie sollten
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ihren vollkommenen Grad erlangen, oder eine halbe Stunde, ja nur den zehnten Teil einer Stunde sollten anhalten, so müßte er gänzlich zugrunde gehen und alle seine Gebeine würden in Asche verkehrt werden. Hier erscheint Gott als mächtig zornig und mit ihm zugleich die gesamte Kreatur, alsdann weiß man nicht aus noch ein: da ist kein Trost, weder von innen noch von außen, sondern alles ist Ankläger: Luther war dem "gerechten" Gott gegenüber, den er voller Zorn und Strafe vor sich sah, dessen Zufriedenheit und Gemeinschaft er vergeblich mit großen Anstrengungen zu erringen suchte, bis zu einem wahren Haßgefühl gekommen. Ähnlich und doch anders geht es in der heutigen Not so manchen, die wegen ihres seichteren Schuldbewußtseins wenigstens die allgemein ersichtlichen Gottesstrafen unserer Zeit als gegen die ganze Menschheit "ungerecht" empfinden. Wenn wir der persönlichen Not Luthers, seiner Qual der Sonderung von Gott für unsre persönliche Schuld noch fern stehen, so liegen wir doch, in derselben Sünde dem Einheitswillen gegenüber, ebenso in der Verzweiflung unsrer Vereinzelung wie er. Auch wir kommen nicht anders zur Überwindung der Weltnot, als wenn wir der letzten Untiefe des Leides, der Schuld unserer Sonderung und Vereinzelung, auf den Grund gehen.
Wir brauchen nichts als Wahrhaftigkeit, die Wahrhaftigkeit eines ungebrochenen Wirklichkeitssinns, um in irgend einem Teilausschnitt des Lebens die ungeheure Verantwortung des Schuldzusammenhangs zu erkennen. Nur nach den Kleinsten unter uns brauchen wir uns umzusehen, um die Not und Schuld wenigstens der allgemeinen Vereinzelung schwerer als Zentnerlast auf uns zu fühlen. Daß das Kind mitten in der Menschheit verloren ist, daß der Garten des Kindes zur leeren düsteren Wüste geworden ist, kann uns am eindringlichsten zeigen, wie tief ihre Einheit durch uns alle zerstört ist. Das Paradies der Einheit Gottes ist der Erde verloren gegangen, weil die lebendige Beziehung der Gotteseinheit zu uns zerbrochen ist.
Wenn ein einzelner nur einige wenige aus körperlicher und geistiger Not stammende Kinder aufnehmen könnte, so würde er den gesamten natürlichen Zusammenhang der Weltnot und der Einzelschuld erkennen müssen: Die beziehungslose Verkommenheit der Kinderwelt beruht auf unserer Sünde als der egoistischen Sonderung unserer Interessen auf uns selber. Beinahe ein viertel aller Kinder von Arbeiterinnen wächst praktisch „mutterlos“ auf Die Mutter ist vielfach belastet durch die Fabrikarbeit, durch die Hausarbeit, durch die Aufgaben für den Mann und durch die Kinderaufgaben, so daß das Kind nicht zu lebendig erfülltem Gemeinschaftsleben geführt werden kann.
Die Herkunft von durch rücksichtslose Ausnutzung erkrankten und erschöpften Eltern, — der Hunger, den das Kind oft schon im Leibe einer arbeitenden und erkrankten Mutter durchmachen mußte, —die Schonungslosigkeit der Menschheit der schwangeren und nährenden Mutter gegenüber, alle diese Schuld der Menschheit, die das erste Werden des Lebens bestimmt, muß dem Kinde den Stempel der Entartung aufdrücken. Oft erscheint Es hoffnungslos ein solches im Keim krank gemachtes Kind dem Leben und seiner Gemeinschaft zuführen zu können. Und die wurzelhafte Lähmung der Lebenskraft erfolgt nicht nur durch die ungemeinschaftlich erschöpfende überanstrengende Arbeit der Mutter während der Schwangerschaft. Die
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Keimverderbnis wird nicht nur in der Arbeit wie in Giftfabriken bewirkt, wo die Mutter ihren tragenden Körper durch Tabak und Bleivergiftung so gründlich zu Fehlgeburten zerstört, daß von den wenigen hier und da dennoch geborenen kümmerlichen Kindern viele absterben müssen. — Die folgenschwerste Vergiftung geschieht auf anderen noch häßlicheren Wegen der Gesellschaftsschuld durch Blutkrankheiten, die durch ungetreue und verlogene Verhältnisse ungezügelter Geschlechtsgier verursacht sind. Nicht selten muß man es erleben, daß ein begabtes Kind, bis dahin voller Lebendigkeit und Beweglichkeit, — plötzlich unter Krämpfen zu Boden fällt. — Der Arzt macht die Blutprobe. — Er muß das unschuldige Wesen einer furchtbaren Kur unterwerfen, deren Ergebnis nach unsäglichen Martern zweifelhaft bleibt. Schwerste Lebensschädigung, wie Augenschwäche und Verblödung bedroht als Erbe verantwortungsloser Nächte die Zukunft des Kindes. Eine Million unehelicher Kinder werden jedes Jahr unter uns geboren, Kinder, an denen die verantwortungslose Gemeinschaftswidrigkeit der oft gut oder gar üppig lebenden Väter gerächt wird, gerächt einmal durch die Schroffheit ihrer gesellschaftlichen Ächtung, noch tödlicher aber durch schwerste praktische Benachteiligung im aufwachsenden Alter werden diese Verlassenen oft bei ihren Ziehmüttern aufs stärkste geschädigt. Wenn auch nicht immer die Pflegemütter als Engelmacherinnen einen langsamen Martermord auf ihr Gewissen laden — was häufiger geschieht als wir ahnen — so können sie doch kaum jemals warme Mutterliebe zu diesen oft recht schwierigen, weil tief unglücklichen Kindern haben. Wenn wir die furchtbare Lage jener vielen "allzuviel Geborenen" in praktischer Anschauung kennen lernen, werden auch dem Härtesten die Augen aufgehen und übergehen. Die schwersten Vorwürfe und Selbstanklagen werden uns aufsteigen müssen, daß wir in unserem egoistischen Einzelleben solange an diesen ungeheuerlichen Tatsachen vorüber gehen konnten.
Jedes fünfte Kind ist mitten unter uns für den Tod geboren. In der menschenreichen Verlassenheit der Stadt ist die Ernährung des Kindes durch die Flasche nur zu oft eine langsame Vergiftung oder Entkräftung durch: eine Milchmischung, die das Kind eher zum Tode als zum Leben führt. Und schlimmer noch: Es gibt fluchbeladene Verhältnisse, in denen das Kind statt mit Milch mit Alkohol genährt wird! Epilepsie und Idiotie, Fallsucht, Krämpfe und Blödheit des Gehirns, psychopathische Schwäche des Gefühls- und Willenlebens sind als Heimsuchung bis in die dritte und vierte Generation in der Hauptsache Alkoholfolgen und Syphilis Ergebnisse. Sie verweisen auf Dinge, die heute schon abgestellt oder wenigstens auf ein Minimum zurückgedrängt werden könnten, wenn sich die Menschen zu auch nur einigem Gemeinsinn aufraffen könnten! Wer die Statistiken der Ver-brecher und Trinkerfamilien eingesehen hat, wird es nicht mehr leugnen können, daß durch diese doppelte Verseuchung und Vergiftung auf dem Wege der Vererbung eine Lasterhaftigkeit und Krankhaftigkeit verbreitet wird, die zu einer ungeheuren Weltnot ausgewachsen ist.
Aber selbst wenn das kleine Dasein an diesen ersten tödlichen Klippen vorübergekommen ist, finden wir die Mehrzahl der armen Kinder in einer Wohnungsnot mitten im Häusermeer, in einer Heimatlosigkeit mitten im Vaterland, daß diese unglücklichen Wesen in ihren Kellerwohnungen, Dach-
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kammern, Bretterverschlägen und Hofwohnungen von jeder für menschliche Lunge geeigneten Luft abgeschlossen blieben. Eine Million Menschen "leben" heute in Deutschland zu je Vieren, 600 000 Menschen vegetieren zu je Fünfen in einem einzigen oft kleinstem, engsten Raum. Ich fürchte, daß die wenigsten unter allen den vielen, die nicht selbst in einem solchen Raume aufgewachsen sind, diese Verhältnisse kennengelernt oder auch nur ein einziges Mal gesehen haben. Das ist die schwere Anklage, die gegen uns erhoben werden muß, daß wir dieser so eng benachbarten Weltnot gegenüber ohne Fühlung und Anteilnahme gleichgültig, geblieben sind, — daß wir sie nicht ein einziges Mal aufgesucht haben, -- wir, die wir für uns selbst Zeit finden, diese und jene Erholung aufzusuchen, fast täglich nach unserer vielleicht harten Arbeit eine wohltuende Ausspannung zu finden! Wir ver-einzelten, egoistischen Menschen finden keine Zeit, an die allzu nahen Plätze zu gehen, an denen wir mit der Weltnot täglich in empfindlichste Berührung kommen könnten.
Stellen wir uns nur ein einziges solches "Zimmer" vor; es ist niemals groß, — ein kleiner Raum, in dem fünf Menschen ihr "Leben" bei Tage und des Nachts aushalten müssen. Hier liegt nicht etwa ein jeder in einem Bett für sich; nein: das gerade ist das uns alle verantwortlich machende "Kul-turzeichen" solcher Räume, daß immer mehrere ein Bett miteinander teilen: Atmen wir die schlechte Luft dieser kleinen Räume bei schlechter Heizung im kalten Winter! Durchleben wir die sittlichen Gefahren dieses Zusammenlebens, die unerhört frühe Verleitung der Kinder zu häßlichen Dingen, die sich hier von selbst ergeben muß! Fühlen wir den in dieser Enge der Räume bei dieser Armut unvermeidlichen, unsauberen, bazillenschwangeren Schmutz —an unserem eigenen Leibe: Lassen wir uns mit vier erschöpften Menschen auf diesen engsten Raum zusammenpferchen, wo Lager, Wäsche und Decken so unbeschreiblich knapp sind! Und nun denken wir uns diesen Raum in einer Etage zehn Mal und fünf solcher Etagen übereinander, also diese Not und Folterkammer fünfzig Mal! Und dann denken wir uns zehn solcher Häuser, also fünfhundert Mal diese flucherfüllten "Zimmer"! Und dann denken wir uns diese Höhlen der Weltnot in tausend Städten für fünfhunderttausend Körper! So gelangen vielleicht auch die Verhärtetsten zu einer ahnenden Vorstellung dieses Elends in unserm deutschen Lande, in dem sich Überfluß, Bequemlichkeit und Wohnungsluxus immer wieder breit macht.
Eine Million Menschen sind in demselben Deutschland ohne Wohnung, Menschen, die zu gutem Teil auf Jahre hinaus kein menschenwürdiges Unterkommen finden können. Auf allen Wohnungsämtern findet man wohl geschickte Egoisten, die rechtzeitig für ihre Heimat zu sorgen wissen Aber die meisten sind Unglückliche, die von Woche zu Woche, von Monat zu Monat und von Jahr zu Jahr vergebens um eine menschenwürdige Unterkunft kämpfen. Wie viele von ihnen haben Kinder, die um dieser schmachvollen Verhältnisse willen ohne elterliche Gemeinschaftsführung, — ohne jede Lebensheimat aufwachsen müssen!
Wir alle kennen die Weihnachtsgeschichte von dem Kind im Stall, das bei den Menschen keine Unterkunft fand. Wir stellen sie wohl in Bildern oder in beleuchteten Weihnachtskrippen mit ihren Krippenfiguren in unsere fest-
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lichen Zimmer. Wir erbauen uns an diesem Gefühl, in welcher Armut und Not das Christuskind von seiner obdachlosen Mutter in einem Stall — außerhalb der menschlichen Wohnungen — geboren wurde Und doch dulden wir es, daß ungezählte Kinder ohne ihr eignes kleines Bett in unserer eigenen "Heimat", in unserm eigenen "Vaterland" obdachlos bleiben! Warum gehen wir nicht zu diesen Kindern, die nicht einmal einen gegen Sturm und Regen geschützten Stal1 zur Verfügung haben? Er wäre heute für viele hin und her gestoßene Menschen nicht der schlechteste Aufenthalt. Manche ins Unglück geratene Mutter kommt für ihr Kind auf die schlechtesten Gedanken gegen sich selbst. Erst wenn unglückliche Kinder Vol1waisen geworden sind, haben sie eine wachsende Aussicht, ein Bett zu bekommen: im Waisenhaus.
Auch für die ausgesprochen psychopathischen Kinder wie für alle solche, die wegen des Verhaltens ihrer Eltern unter "Fürsorge" gestellt sind, sorgt der Staat durch seine Jugendämter, Jugendpfleger und Fürsorgerinnen. Wir müssen für diese tief in das Staatswesen hineingedrungene soziale Energie dankbar sein und darin ein Zeichen der hochgestiegen Not und zugleich der erwachten öffentlichen Verantwortlichkeit erblicken. Auch unser Bruderhof erkennt diese Betätigung des Staates, der so das Antisoziale, das "Böse" — am wirksamsten durch seine "guten Werke" bekämpft, ohne jede Einschränkung an. Unsere protestierende Kritik nm Staat, dessen Grenzen in seiner notwendig juristischen, auf Eigentum und Besitz eingestellten und militärischen Gewaltmacht als einer außerchristlichen Lebensform gegeben sind, wird auch dadurch nicht aufgehoben, daß wir ihm Steuern zahlen und von ihm Wohlfahrtsunterstützungen annehmen, soweit beides unsre Lebensrichtung des Glaubens, der Liebe und der Reich Gottes Erwartung nicht gefährdet oder zerstört. Die Wohlfahrt des Staates hat ihre Grenzen. An diesen muß die private persönliche Lebenshaltung und Hilfe der Einzelnen und der mehr oder weniger freien sozialen Zusammenschlüsse einsetzen. Es sind so viele, viele Kinder in äußerster Not, die weder Psychopathen sind noch durch die Schuld ihrer Eltern unter die staatliche Fürsorge gestellt werden mußten. Für diese kommt in häufigen Fällen die staatliche Geldunterstützung oder Existenzversorgung nicht in Frage. Diese "Grenzfälle" bedürfen unserer besonderen Aufmerksamkeit. Hier gilt es, der Not nachzuspüren und die Verhältnisse aufs genaueste zu erkunden. Nur wenn wir durch beständig nachforschende Arbeit diese Weltnot auf unsere Schultern nehmen, werden wir ihre Schwere erkennen und sie an unserm kleinen Teil mittragen können. Sucht die Kinder auf, wo ihr sie trefft. Erkundet die Not, die ungezählte Mütter für ihre Kinder auf todwundem Herzen tragen. Nehmt sie unter äußerster Einschränkung eurer eignen Lebensbedürfnisse in euer Heim auf. Und wenn ihr die Grenze der gesunden Wohnungs und Unterbringungsmöglichkeit bei euch selbst nicht noch weiter gefährden könnt, setzt euch mit Kinderheimaten in Verbindung, in denen die Kinder im Geist des Vertrauens und der Freude mit wachem Ernst aufgezogen und zu ihrer besten Leistungsfähigkeit geführt werden. So sorgt auch für den Bruderhof. Helft uns, für verlassene Kinder Raum zu schaffen. Schickt uns zu Weihnachten Baugelder. Übernehmt die monatliche Geldversorgung eines Kindes und bleibt euren
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freiwilligen Verpflichtungen treu. Wieder sind es zu Weihnachten drei Kinder, die auf dem Bruderhof Einlaß begehren. Vergeßt sie nicht. Erübrigt von Eurer Weihnachtskasse ein äußerstes, um uns zur Steuerung dieser Not beizustehen. Seid nicht wie der Wirt im alten deutschen Weihnachtsspiel, der um seiner zahlenden Gäste willen nichts als den Stal1 für das Weihnachtskind übrig hatte. Helft uns, daß wir aus der Stall , Scheunen und Bretterbuden Unterbringung unserer jungen Männer herauskommen. Schickt uns Geld, damit wir zu Weihnachten wieder ein gutes Stück vorwärts kommen, um neuen obdachlosen und heimatlosen Kindern gesunde Wohnung, Nahrung und Kleidung und Erziehung und Unterricht geben zu können. Liebt das Kind der Maria in jedem unglücklichen kleinen Wesen, das seelisch und körperlich zu Grunde gehen muß, wenn ihr nicht helfen wollt.
(Schluss folgt)