Eberhard Arnold

Versammlungsprotokoll, 14. Januar 1932

[Arnold, Eberhard and Emmy papers - T.S.H.]

EA 1

Zum 7. Todestag Else von Hollanders

Am 14. Januar 1932 gesprochen von Eberhard Arnold

Es ist uns gestern abend in der älteren Bruderschaft klar geworden, daß es jetzt sehr von Nöten sehr von Nöten ist, daß wir uns an dem innersten Sinn und an das Geheimnis der letzten Kräfte erinnern, wie es in dem Sterben von Else gewaltet hat. Es hat sich als ein tiefstes Bedürfnis und als eine äußerste Notwendigkeit erwiesen, daß wir dieses Erlebnis in seiner ganzen Tiefe, Breite und Höhe wenigstens einigermaßen begreifen, damit bei keinen von uns irgendetwas umsonst geschehen wäre. Wir werden es ja dann bei der Leichenrede merken, daß man von den himmlischen Dingen vor den Menschen nur so sprechen kann wie mit einem Blindgebornen von Farben spricht. Trotzdem muß es gewagt werden.

Das wunderbare Erlebnis, in dem wir diese Tage stehen, besteht darin, daß die Liebe und Gnade und Barmherzigkeit Gottes dieser kleinen Welt zugewandt bleibt. Gott selbst will sich offenbaren, um sein Reich aufzurichten über alle Welten, auch über die Welt dieser Erde. Er will es offenbaren als ein wirksames Reich des Friedens, der tätigen Arbeit, der Brüderlichkeit, der bis ins Materielle eindringenden Gerechtigkeit, völliger Einheit. Und wir erwarten dieses Reich als ein Reich der Zukunft Gottes. Und wir wissen wohl, daß es nicht erwächst aus menschlichen Leibern und auf irdischen Fundamenten. Es ist uns tief bewußt: Es ist nicht hier oder da. Es kommt vielmehr, wie der Sonnenaufgang von Osten. Es ergreift sie total und universal. Das Reich ist das kommende Reich der Zukunft Gottes.

Und es hat Zeiten gegeben, in denen manche von uns in einem wohl-

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begründeten Gegensatz zu einer falschen Jenseitigkeit gestanden haben. Und ich habe es öfter mit unserer Tata besprochen, wie einseitig wiederum diese Antithese gestaltet war. Es ist ein großer Frevel, nur von der Jenseitigkeit des himmlischen Reiches zu reden und das Kommen seiner Zukunft zu verschweigen. Es ist aber auch ein großer Frevel, nur von der kommenden Zukunft zu sprechen und die Unendlichkeit der anderen Welt zu verschweigen.

Das, worauf es ankommt ist dieses (das war Else so sehr tief klar) und sie hat es mir in den letzten Wochen wiederholt bekannt und ausgesprochen: Das Reich Gottes ist wirklich Gottes Reich und nicht des Menschen Reich. Es ist das Reich der Himmel und nicht das Reich von der Erde. Das aber bedeutet, daß dieses Reich Gottes nicht bestimmt wird oder nicht entsteht oder nicht ersteht aus dem Wirken des menschlichen Subjekts und den Grenzen und Schranken unseres irdischen Raumes und der abgekürzten Spanne unserer zeitlichen Vergangenheit, Gegenwart, und Zukunft. Dieses Reich Gottes hat seine Quellen dort, wo weder das menschliches Subjekt, noch der räumliche Raum noch die zeitliche Zeit entscheiden - Gewiß: Wir haben es gerade in der Weihnachts und Sylvesterzeit erfahren. Gott nimmt sich dieser erbärmlichen Schöpfung an, er neigt sich diesem Raume zu, gerade weil hier Jammer und Leid und Ungerechtigkeit und Sünde ist. Er verleugnet seine erste Schöpfung durchaus nicht. Er ist auch in dem selbstischsten und eigensinnigsten Subjekten im Erlebnis tätig. Er verläßt nicht einmal die Gewalthaber, die mit Blut und Prostitution die öffentliche Ordnung herzustellen versuchen. Sie sind von ihm gesetzt und werden von ihm gehalten, freilich auch

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fallen gelassen, wenn seine Stunde kommt, wie auch andere Menschen fallen gelassen werden. Aber wir dürfen uns darüber nicht täuschen. Was vom Fleisch gesät ist, ist Fleisch. Was in der menschlichen Geschichte in Raum und Zeit wachsen kann, das ist nicht die vollkommene Offenbarung in Jesus Christus und in seinem heiligen Geist. Nur eins ist in dem allen, was wie eine kleine Stichflamme aufleuchtet inmitten der rauchigen, russigen Friedensflammen des menschlichen Beginnens. Nur eins ist es, was etwas hat von der Ewigkeit der unendlichen Welt, das ist der Glaube, der Glaube, der von sich selbst absieht, der nicht von menschlichen Subjekten abhängt, sondern der vielmehr aus der ganz anderen Welt, aus dem ganz anderen Ich, aus dem ganz anderen Du, aus Gott, alles erwartet. Und deshalb müssen wir bekennen, und das war das entscheidende Erlebnis in der Schau unserer Tata. Gottes Reich ist ebensosehr gegenwärtig wie kommendes Reich, daß es von dort her, von dieser andere Welt in der Zukunft in dieser unseren Zeit eindringen wird. Noch mehr als das: Es ist zu gleicher Zeit heute, jetzt und hier. Und es ist für uns Glaubenssache, daß wir es jetzt schon fassen und erleben können, daß das Reich Gottes hervorbricht, hereinbricht und hernieder kommt, und das tut es durch den heiligen Geist, das tut es durch die Tatsache der Einheit im heiligen Geist, das tut es durch die Wirklichkeit der Gemeinde, die im heiligen Geist zu uns herniederkommt, daß jene kleine Stichflamme mit der rauchigen russigen Flamme vereinigt wird, mit der reinen weißen Flamme der oberen Stadtgemeinde, die aus der anderen Welt der Reiches Gottes zu uns, den Glaubenden kommt, soweit, so oft und so wirklich wir glauben. Dann sind die Himmel geöffnet, es brechen die Kräfte

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hervor. Dann sind die Kräfte der Ewigkeit beinahe fühlbar und sichtbar. Dann geschieht es, daß aus den geöffneten Himmeln eine unerhörte Kraft hervorbricht.

Nun ist aber die Frage: Was ist das für eine Kraft und wie wirkt sich diese Kraft aus? Und wie ist ihr Charakter? Das Reich Gottes besteht nicht im Essen und Trinken. Unsere Else war immer frei von der Askese um der Askese willen. Sie verschmähte niemals noch so gut schmeckende Bissen, als es noch besser ging, aber sie bewies sich als frei und unabhängig von Essen und Trinken, daß ihr zuletzt nur noch das Wasser blieb und sie so freudig sagte: Das Wasser ist das Beste, was uns auf der Erde gegeben ist, und das lebendige Wasser ist das Größte: Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist. Die Gerechtigkeit wurde ganz offenbar als Barmherzigkeit: Die gleiche Güte, das gleiche glühende erbarmende Herz für alle, das ist die Gerechtigkeit. Und der Friede ist die Einheit. So bekannte sie wiederum: Das Größte in Gott ist die Barmherzigkeit, und: Ich freue mich so an der Einheit. O wie schön ist die völlige Einheit und wie schön ist es, daß ihr in der Bruderschaft in völliger Einheit leben dürft. Das ist ein Wunder Gottes. Aber die Freude, die sie hatte, war schon von anderer Art als die Freude, die wir in der Bruderschaft an der irdischen Auswirkung des Reiches Gottes haben. Es war schon eine himmlische Freude, es war schon ein Hereinbrechen der Kräfte der Ewigkeit, ein (Die Freude ist in dem) Nahesein Jesu Christi, und zwar nicht ein Nahesein im individualistischen, subjektivistischen Sinne, daß der Heiland sich der einzelnen Seele widmet, sondern ein Nahesein als des Führers der Lichtschar, als des Herabbringers der Lichtgemeinde,

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als des Kommenden, den die Braut erwartet, zur Durchdringung mit seinem Reich und seiner Herrschaft. Es war der umfassende Jesus Christus, der Herr aller Herren, der seine Gnade mit allen Kräften der Ewigkeit hier offenbarte.

Wie wirkten sich nun diese Kräfte aus und in welcher Weise zeigten sie sich weiterhin unter uns? Diese Kräfte des herniederkommenden und bei uns wirkenden Jesus Christus und aller seiner ewigen Scharen erwiesen sich als eine Lichtkraft gegenüber der Finsternis, als eine Vollmacht, die den Drachen dieser Welt, den Gewalthabern, den Fürsten des Todes (Bazillen und Bakterien) hinauswarf und überwand. Wohl durfte dieser Drache den Leib antasten und zu Tode bringen. Aber nicht konnte er die Seele antasten und aus ihrer Freude und aus ihrem Frieden bringen. Und gerade diese Tatsache, daß der Leib zerfällt und von innen her aufgefressen wird und das doch zugleich die Seele in der vollen Freude bleibt, das ist das Geheimnis dieses Sterbens. Es ist hier ein Selbstvergessenheit geschenkt worden, die über alles Begreifen geht. Es war dies alles verbunden mit einer Natürlichkeit, so daß die körperlichen Übelstände in keiner Weise unterdrückt wurden. Zugleich aber waren diese körperlichen Übelstände und Nöte völlig unter den Füßen der Seele. Sie bedeuteten nichts mehr für die triumphierende Seele, die letzlich nichts anderes war als die triumphierende Kirche, die glorifizierte Gemeinde, die bei uns in dieser Seele war. Und deshalb also blieb diese Seele den Wirkungen Gottes unter den Menschen in Raum und Zeit durchaus zugewandt. Aber sie war völlig befreit von der Bindung, Fesselung, Ankettung an diese menschlichen, räumlichen und zeitlichen Geschehnisse. Das war eigentlich das entscheidende

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Wunder, was hier durch den Geist Gottes unter uns geschah. Es war keine buddhistische Lebensentfremdung. Es war im Gegenteil eine ganz starke Hinwendung zu dem, was die Menschen brauchen und was die Erde braucht und deshalb Aktivität bis zur letzten körperlichen Möglichkeit, Arbeitsaktivität der tätigen Liebe an die Menschen und ihren Dienst in der Gemeinde Gottes, und doch zugleich war es ein völlig Losgelöstsein an die Gebundenheit dieser zeitlichen Bedürfnisse, so daß sie sagen konnte: Ich bin ganz bei euch und werde ganz bei euch sein immer, und doch ganz anders. Und so begreift man es vielleicht ein ganz klein wenig, daß hier die Seele voller Freude war, als sie sich vom Körper löste und als die Quälen des Körpers menschlich, allzu menschlich im Erscheinung traten. Die Seele blieb voller Freude, weil sie ja nur die eine Bitte hatte, daß Christus selbst sie abholen möchte.

Und so wurde uns wieder das Gleichnis der Jakobsleiter offenbar, das ist das Geheimnis des Reiches Gottes, daß die Boten Gottes auf dieser Himmelsleiter herauf- und herabsteigen.

Es ist wiederum eine Irrlehre, wenn man es so darstellt, daß sie nur hinaufsteigen - es ist aber ebenso eine Irrlehre, als wenn immer nur die Boten Gottes herabstiegen zu uns, als wenn alles was Gott tut, alle Wirkungen Gottes nur in dieser einen Richtung, von oben nach unten sich offenbarten. Die Wahrheit ist Beides: Die Leiter, auf welcher die Boten Gottes hinauf- und herabsteigen!

Und so war dieses ein Sterben mit dem Ruf: "Amen, ja, Amen. Komm, Herr Jesus! Hole mich herauf zu dir", und zwar eine letzte völlige Gewißheit, aber es war noch viel mehr als das: Es war die viel umfassendere Bitte: "Komme herab, um diese Erde zu erobern

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und deine Barmherzigkeit zu offenbaren." Und so wurde auch das ganze Evangelium erfaßt: Das Weihnachts-Evangelium, daß Er auf diese Welt kam und sich nicht scheute, uns seine Brüder zu nennen und das Kreuzes-Evangelium, daß der Tod Christi eine große Sache - die größte Sache - ist, nämlich den Tod und Teufel zu überwinden und allen seine Macht genommen hat, die Himmelfahrt Jesu, daß er gegangen ist, um uns die Wohnung zubereiten.

Und wiederum war es eine herrliche Beziehung zwischen den astronomischen Himmel und der anderen Welt: Scheinen auch heute die Sterne? fragt sie, und es war ihr eine so große Freude, daß an einem der letzten Abende der Mond mit dem großen Polarstern direkt bei ihrem Häuschen stand, es war ihr wie eine Verheißung, daß sie gleichsam mit einem goldenen Wagen Christus selbst abgeholt werden würde.

Das Pfingsterlebnis für die Beauftragung der Gemeinde, was sie mit der Klarheit aller Worte Christi gänzliche erfaßte - bis einem solchen Ausblick und bei einer solchen fundamentalen Gründung konnte es nicht fehlen, daß alle persönlichen Dinge gänzlich aufgegeben waren, daß sie sich wohl freute an der Vergebung der Sünde und daß sie gewiß war, die Stunde der Versuchung ganz gewiß zu überstehen in dem Sieg des Todes Jesu, so daß sie von ganzem Herzen rufen konnte: Dein Name werde geheiligt, Dein Wille geschehe und Dein Reich komme!

Unsere Tata spürte, daß etwas ganz Entscheidendes geschähe. Gott ist groß und wenn etwas von ihm geschieht, dann ist es groß und dann will er uns befreien von unserer kläglichen Subjektivität, und er will uns der anderen Welt die Kraft schenken, daß wir als die Neugeborenen in der Kraft des anderen Reiches in der Welt eine

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Arbeit tun und ein Leben führen, wie es dem Charakter dieses Reiches entspricht.

Wir alle, die wir dazu zusammengekommen sind, um so von der oberen Gemeinde, in der nun auch unsere Tata tätig ist, besucht zu werden, die wir bereit sind, alles hingwegräumen zu lassen und alles durch den Tod gehen zu lassen, was hinderlich ist für dieses offenbarwerden des Geistes, wir alle, die wir so zusammen gekommen sind, wollen Gott darum bitten.

Typed July 1997 by Andrew Wright from copy X

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