Eberhard Arnold

Versöhnungsarbeit

[Arnold, Eberhard and Emmy papers - P.M.S.]

Das Neue Werk, 16.2.1921, 2. Jahrgang Nr.22

EA 21/05

von Eberhard Arnold.

Im Herbst 1919 erging ein Aufruf an die Christenheit aller Nationen und Rassen, sich in Bilthoven (Holland) in Andacht und Gebet zusammenzufinden. Es wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, daß nur solche Menschen die Pilgerfahrt nach Bilthoven antreten sollten, die keinen anderen Herrn erkannten als Christus allein. Zeugen, die von diesem Treffen berichten, sind erfüllt von dem Wunder der Einheit dieser Versammlung, die sich ohne große Reden und Diskussionen, und ohne einer Organisation oder einer sonst üblichen menschlichen Annäherung zu bedürfen, als "die Gemeinde" erkannten. Es waren Menschen, die es wieder einmal gewagt hatten, den Weg der einzig unzerstörbaren und auf Fels gebauten Gemeinschaft zu beschreiten - den der Einung im "lebendig gegenwärtigen Christus". Man zerstreute sich wieder in die verschiedenen Länder und Erdteile; und überall entstanden kleine, glühende Gruppen von Liebe ergriffener Menschen mit dem inneren Müssen, die Saat der Versöhnung zwischen den entfremdeten Völkern und Klassen auszustreuen.

In Holland ist es die "Bruderschaft in Christus", eine freie Vereinigung ohne feste Mitgliedschaft, die das Heim für die Zusammenkünfte der christlichen Internationale bietet. Es ist dort ein Bruderschaftshaus im Walde von Bilthoven gebaut worden, welches über seiner Tür die kennzeichnende Überschrift trägt: "Einer ist Euer Meister, ihr aber seid Brüder." Eine Baugemeinschaft hat dieses Haus errichtet, in welcher alle beteiligten Arbeitskräfte die gleiche Summe als Arbeitsvertrag erhielten. Die Türen dieses Hauses stehen Tag und Nacht offen. Es ist einem jedem[n] Gelegenheit gegeben, dort zu Hause zu sein und Gemeinschaft zu finden.

Vom 25. Januar bis 3. Februar durfte ich an einer neuen Zusammenkunft des internationalen Rates in Bilthoven teilnehmen, der die gesamte Arbeit der Christlichen Internationale zu beraten hatte. Es wurde beschlossen, als Sekretärin für die gemeinsame Aufgabe Lilian Stevenson zu berufen, die, schon lange Jahre in dem englischen Versöhnungsbund und in der englischen Studentinnenbewegung tätig, auch in deutschen christlichen und pazifistischen Kreisen gut bekannt ist. Der englische Versöhnungsbund umfaßt etwa achttausend Mitglieder. Die Friedensbewegung ist in England auch unter der akademischen Jugend im Wachsen be-

- - -

griffen, so daß im englischen Vorstand und unter den englischen Sekretären der christlichen Studentenbewegung mehrere entschiedene Pazifisten zu finden sind, die von dem Gewissen Jesu aus den Militarismus, die Gewaltpolitik und den Kapitalismus in England und in der Welt bekämpfen. So ist denn unter dem englischen christlichen Studenten eine große Anzahl vom christlichen Gewissen aus antimilitaristisch und antikapitalistisch gesinnt. In Amerika steht es anders. Dort hat der frisch importierte streng militaristische Geist die öffentliche Meinung erobert. Die amerikanische Gruppe der Christlichen Internationale umfaßt nur etwa achtzehnhundert Menschen, die sich ebenso wie die Engländer entschieden zu Jesus Christus, zu seinem Liebes- und Friedenswillen und zum Kampfe gegen den Mammonismus und das kapitalistische Wirtschaftssystem zu bekennen. Den Franzosen gegenüber erscheint jedoch die große Schar der Engländer und Amerikaner weniger revolutionär und weniger radikal. Die Franzosen, die in Bilthoven waren, waren Menschen des Herzens und des Geistes, die nicht von neuen organisatorischen Zusammenschlüssen das große wesentliche Kommende erwarten können, sondern vielmehr allein von dem Elan des Gottesgeistes, der überall Menschen mit sich reißt, um das alte schlechte politische, wirtschaftliche und kirchliche Gebäude durch eine wirkliche Neuordnung zu ersetzen, die allein von Gott herkommen kann. Unter den Franzosen waren es verschiedene Typen, der eine mehr einer pantheistischen Mystik zugeneigt, die andere entschieden biblizistisch und christozentrisch orientiert, beide aber mit tiefer Innerlichkeit und Bestimmtheit auf der Seite der proletarischen Revolution, voller Sehnsucht nach einem organischen neuen Werden der Menschheitsgemeinschaft. Von dieser Seite fiel, von Deutschen unterstützt, der Ausspruch, daß die "Christliche Internationale" besser Kommunistische Bruderschaft in Christus" heißen müße, wenn sie reifer wäre, als sie heute ist.

Von Holland und von Deutschland waren verschiedenartige Kräfte wirksam, die alle das gemeinsame Ziel des zukünftigen Gottesreiches im Auge hatten und im Blick auf dieses Ziel ihr Leben in der Nachfolge Jesu für soziale Gerechtigkeit, für entschiedene Friedenswirkung und für wirkliche Gemeinschaft unter den Menschen einsetzen wollten. Aber die einen betonten mehr die Versöhnung zwischen den verschiedenen Klassen und Ständen und berücksichtigten wie die Engländer, Amerikaner und Dänen sowie wie der katholische Österreicher stärker die gegebenen Verhältnisse und dementsprechend die Notwendigkeit der Organisation und einer gesunden Finanzierung, während die anderen das Bekenntnis ablegten, daß es jetzt um einen Neuaufbau organischen Lebens geht, daß jetzt in jeder Hinsicht ein neuer Anfang gemacht werden müsse, der nicht auf den überlieferten Gegebenheiten in Staat, Kirche, Gesellschaft und Finanz-Gewohnheit aufbauen könne.

Es wäre ein Irrtum, zu glauben, daß es sich hier um Schlagworte handelt, wenn man zwischen "bürgerlich versöhnend" und zwischen

- - -

"revolutionär gemeinschaftsbildend" eine Verschiedenheit des Wirkens empfinden. Es ging vielmehr um die Frage, welche Aufgabe heute für den Friedenswillen und die Liebessendung der Gemeinde Jesu die nächstliegende sei. Handelt es sich jetzt vor allem darum, die vorhandenen Friedensbestrebungen organisatorisch zu einer gemeinsamen Vertretung zu bringen, und von dieser Vertretung aus durch Finanzverwaltung, Korrespondenz, durch Zeitschriften und durch Reisetätigkeit die Botschaft des Friedens und der Gerechtigkeit zu verbreiten? Oder handelt es sich heute vor allem darum, daß hier und dort ein neuer Anfang einer wirklichen Lebensgemeinschaft und Arbeitsgemeinschaft, eines freien Zusammenwirkens lebendiger Kräfte entsteht? Ist es eine willkürliche Vorwegnahme einer zukünftigen Gottesordnung, wenn man heute im Glauben an die Gegenwart des Christus und an die Liebeskräfte seines Geistes Arbeitsgemeinschaften erstehen läßt, in denen auch für das praktische Leben alle die Unterschiede, Vorrechte und Abstufungen überwunden werden, die sonst das Zusammenleben der Menschen hemmen und stören? Wie wird die öffentliche Verkündigung der Wahrheit durch Botschaften aller Art in Versammlungen, Vorträge, Zeitungen, Zeitschriften und Büchern, vor allem aber im persönlichen Umgang echt und wahrhaftig, gewachsen und selbstverständlich sein? Das Erste in unserer Betätigung muß die einfache praktische Anwendung des neuen Lebensgefühls und Gewissens auf das tägliche Zusammenleben und auf die tägliche Arbeit sein? Die gesamte Verwurzelung des neuen Lebens in dem harten Acker der Erde muß in organischem Wachstum täglich tiefer und echter den Forderungen des sozialen Gewissens, dem Drang der völligen Liebe und Gerechtigkeit, dem "Christus in uns" entsprechen.

Die Aufgabe, die vor uns liegt, ist unendlich. Wir aber kennen unsere Schwachheit und Begrenzung. Nur eine unbegrenzte, unendliche Kraft kann hier durchdringen und siegreich bleiben. Es handelt sich um eine Versöhnungsarbeit, die alle Hindernisse und Bollwerke in den Herzen und in den Verhältnissen besiegen muß. Überall liegt etwas zwischen Mensch und Mensch, überall haben die Menschen etwas gegeneinander. Sie erheben Wünsche und Forderungen, Klagen und Anklagen, sie fühlen die mangelnde Wahrhaftigkeit in den gegenseitigen Versicherungen der Liebe und Achtung, der Hingabe und der Gemeinschaft, der Gerechtigkeit und der Freundschaft. Sie sehen überall, wie man festzuhalten sucht, was man an Vorrecht und Besitz errungen hat, oder wie man umgekehrt alles einsetzt, um sich selbst den Besitz oder das Vorrecht zu erwerben, das man in den Händen der anderen sah. Die Völker und Klassen, die Konkurrenzfirmen und die Familien, die Einzelnen alle, sie stehen in dem Kampf ums Dasein, in dem Kampf um Soll und Haben, um Gewinn und Vorteil; und doch fühlen alle in ihrem Innersten, daß es anders sein könnte, daß derselbe Raum derselben Welt, derselbe Zeitaufwand derselben Kräfte in anderer Richtung verwandt und ausgekauft werden könnte,

- - -

nicht mehr gegeneinander, sondern für einander, nicht mehr in Konkurrenz und Feindschaft, sondern im Dienste der Liebe.

Deshalb schauen die Menschen wieder und wieder nach der Religion aus, die doch diese Botschaft der neuen Gemeinschaftslosung vertreten hat, und immer aufs neue verwundert und betroffen wenden sie sich von der öffentlichen Darstellung dieser Religion der Liebe ab. "Wie kommt es", fragte mich vor kurzem ein Arbeiter nach meinem Vortrag über "Sozialismus und Religion" in einer Gewerkschaftsversammlung einer großen Stadt, "wie kommt es, daß die Kirchen und Schulen immer wieder die reine Lehre des Jesus von Nazareth eingeprägt haben? Warum tut man das, ohne daß man daran dächte, sein Leben nach dieser Lehre einzurichten?" Immer wieder taucht der Verdacht auf, die Kirchen, die religiösen Kreise und christlichen "Beamten" entfalten ihre Wirksamkeit in der Absicht der Beruhigung der Entrechteten und Benachteiligten, um sie in der Freiwilligkeit des Verzichtes zufrieden zu machen, - um den Bevorrechteten den ungestörten Genuß ihrer materiellen und geistigen Güter zu sichern und zu schützen.

Versöhnung! - Kann Versöhnung jemals dadurch erreicht werden, daß man Versöhnung predigt, ohne Versöhnung zu leben? Die Gemeinde des Christus ist zu der Botschaft ausgesandt: Laßt Euch versöhnen! Und diese Botschaft ist eine religiöse Botschaft. Die Versöhnung mit Gott bedeutet alles umfassende Versöhnung der Menschen untereinander. Die Gemeinde Jesu ist als "Gesandtschaft" einer zukünftigen Weltordnung, als "Botschaft" eines anderen Weltreiches mitten in fremde und andere Staatswesen und Gesellschaftskörper hineingestellt. Jedes Glied an dem Organismus des Christus ist ein Glied dieser geweihten, sakrosankten Gesandtschaft. Diese Tatsache bedeutet, daß eine solche "Gesandtschaft" nicht den Charakter der gegenwärtigen Weltzeit, der gegenwärtigen Staatsordnung, der gegenwärtigen Gesellschaftsschichtung untergeordnet sein kann. Als Bürger eines anderen Bürgertums sind alle Glieder dieser Gesandtschaft Ausländer und Auswärtige. Und doch steht es um sie anders als um alle anderen Landfremden und Volksfremden; denn ihre Botschaft kennt ja keinen anderen Dienst als den der Liebe und Treue. Sie fühlen sich in keinem Gegensatz zu den Menschen, unter denen sie leben; sondern sie fühlen sich vielmehr als die Anwälte aller derer, die irgendwo in irgendwelcher Not sind, die irgendwie zu leiden haben. Und weiter: Sie sind ja Bürger zweier Welten und deshalb fortgesetzt mitbeteiligt und mitverhaftet in der Schuld und in dem Unglück ihrer Mitmenschen. Sie sind und bleiben identisch und solidarisch mit allen Menschen, die in Not sind und in ihrer Not schuldig werden.

Es besteht nun zwischen den Christen aller Art eine verschiedenartige Abstufung in diesem Dienst, eine verschiedenartige Zusammenstellung der beiden Farben jener beiden entgegengesetzten Weltreiche und Weltordnungen. Die einen fühlen stärker die verantwortliche Verbindung mit den

- - -

gegenwärtigen Zuständen, die gemeinsame Voraussetzung mit dem Volk, zu dem sie gehören, mit der Bürgerschaft ihres Weltstaates, und mit der Aufgabe ihrer Volkskirche. Die anderen betonen stärker die Gegensätzlichkeit der zukünftigen Weltordnung und Lebensordnung in ihrem revolutionären Krieg gegen den jetzigen Zustand der Lieblosigkeit, der Unreinheit, des Mammons und der Unwahrhaftigkeit. Sie fühlen sich zu dem entscheidenen Kampfe berufen, diese Charakterzüge des Teufels und der Dämonen überall aufzudecken und sie überall zu bekämpfen. Sie fühlen sich zu dem stets erneuten Wagnis berufen, mitten in der großen Welt wie mitten im eignen Herzen, in unendlicher Kleinheit und unendlicher Schwäche das Samenkorn der zukünftigen Welt und Lebensordnung sich so entfalten zu lassen, daß diese Entfaltung immer aufs neue einen Bruch und einen Kampf bedeutet, der sich ebenso gegen das eigne persönliche alte Wesen wie gegen die bestehenden Gegebenheiten in Staat und Kirche, in Gesellschaft und Wirtschaft richtet.

Die unendliche Kleinheit und Schwachheit eines solchen Beginnens steht einer unendlichen Macht von Hindernissen gegenüber. Das Unversöhnte und Unausgeglichene, das Ungerechte und Lieblose ist überall in voller Gewalt wirksam. Wohin wir in uns selbst, im eigenen Haus, in unserem Dorf oder in unserer großstädtischen Straße sehen, was wir auch über die soziale Lage und über die gegenseitigen Beziehungen der Völker erfahren: Überall stoßen wir auf Mißtrauen und Fremdheit, auf Forderung und Klage, auf Ablehnung und Mißgunst. Jesus hat es gesagt, daß jede Religionsübung, jedes religiöse Opfer, jede religiöse Weihe sinnlos ist, wenn irgendwo ein unversöhnter Gegensatz, eine unausgeglichene Anklage besteht. Das ist das Erstaunlichste in der Geschichte des Christentums, daß man immer wieder sein Gewissen in religiösen Andachtsstunden und Weihestunden zu beruhigen gewußt hat, während draußen die Scharen der Benachteiligten mit ihren schwerwiegendsten Anklagen an die Kirchentüren pochten und die bunten Kirchenfenster verdunkelten. Es gibt keine Versöhnung mit Gott ohne eine Versöhnung mit allen Menschen. Es gibt kein subjektives Christentum in dem Sinne der Einschränkung auf das eigene kleine Individuum in seinem isolierten Verhältnis zu seinem persönlichen Gott; denn es gibt kein isoliertes Individuum; und es gibt keinen Gott, der einen Menschen ohne seinen Zusammenhang mit den anderen Menschen sähe. Christ werden und Gott schauen, teilhaben am Gottesreich bedeutet deshalb zugleich Barmherzigkeit gegen alle, Hunger, unersättlichen Durst nach einer alle umfassenden Gerechtigkeit, nach dienender Liebe und gewaltloser Hingabe.

Es geht deshalb heute von neuem um die Frage, wo hin und her in den verschiedenen Ländern und Völkern kleine Gottesfunken aufleuchten, die das reine Licht der dienenden Versöhnung Jesu in sich tragen. Nur das große Gottesfeuer des in naher Zukunft hereinbrechenden Gottes selbst kann diese einzelnen Funken zu entscheidender Bedeutung bringen. Aber

- - -

auch der kleinste Funke aus dem kommenden Feuer hat seine Wirkung.

Das kommende Feuer Gottes, das die ganze Erde und die ganze Menschheit ergreift und umgestaltet, ist das zukünftige Reich Gottes, die Erscheinung des wiederkommenden Christus. Der kleine Funke, der im Verborgenen glühend, von demselben Feuer stammt, ist die Gemeinde des Christus, der heute und überall dasselbe Wesen ausstrahlt, wie der historische Jesus und der wiederkommende Christus. Denn sie ist sein Leib, sie ist der leibhaftige Christus auf der Erde. Sie lebt in der Leidensgemeinschaft des verachteten Christus. Aber sie steht auch in der Lebenskraft des Auferstandenen. Hier ist dieselbe Gotteskraft, derselbe Gottescharakter wie in dem Jesus der Evangelien und wie in der kommenden Weltordnung der Gerechtigkeit und Liebe.

Denn Gott ist im unendlich Kleinen ebenso stark wie im unendlich Großen. Es geht so jetzt und hier um die Frage, wo Menschen ihre Gemeinschaft mit Gott als einen Gemeinschaftsdienst an allen Mitmenschen erfassen und ausleben. Es geht um die Frage, wo Christen die unendliche Aufgabe auf ihr Herz gelegt empfinden, daß alles versöhnt werden muß, was heute noch unversöhnt ist. Wo diese Einsicht das Leben ergriffen hat, kann man an keinem Vorrecht irgend eines Besitzes oder irgend einer Gewalt festhalten; denn in jedem Augenblick dringt es hier ins Bewußtsein: Um das, was du hier in der Hand hältst, ringen Tausende und Abertausende; sie stehen gleichsam vor deiner Tür und warten darauf, ob es für dich einen Gottesdienst geben kann, ohne daß du dessen gedenkst, was sie von dir erwarten, was sie so lange vor Gott gegen dich vorbringen müssen, bis du es ihnen gewährt hast.

So mußte es denn kommen, daß in den letzten Arbeiten des Versöhnungsbundes aller Länder auch diese praktische Forderung eines gewaltlosen und besitzlosen Aufbaus echter Lebensgemeinschaft - mit offener Tür für alle - gesucht und bezeugt wurde. Hier wurde es als ungenügend und der innersten Gewissensforderung nicht entsprechend empfunden, wenn jetzt als nächstliegende Aufgabe die organisatorische Zusammenfassung der verschiedenen Friedensgruppen und Versöhnungsgemeinschaften geplant wird, und wenn in geschlossenen Komiteesitzungen diese Zusammenfassung sorgfältig organisiert und festgelegt werden soll. Man fühlte demgegenüber: das Wesentliche, um das es sich heute handelt, ist etwas Stärkeres. Es ist etwas Organisches, es ist das einzig Organische: es ist das Leben selbst: es ist das Leben Gottes in seiner verbindenden Liebe, in seiner aufbauenden Gemeinschaftsarbeit.

Praktisch wurde deshalb hier der entscheidende Wert darauf gelegt, daß man heute überall offene Ohren und offene Herzen dafür haben müsse, wo ein verborgenes Aufglimmen des Gottesgewissens für die göttliche Neuordnung zu merken wäre, wo irgend ein verborgener Lebenskeim im Wachstum begriffen ist, der den Überschwang der Gottesliebe und der Gottesgemeinschaft in sich trägt. Man will sich entschlossen in den Dienst

- - -

dieses aufkeimenden Lebens stellen. Man sucht Arbeitsgemeinschaften aller Art, in denen die Rangunterschiede und die Vorrechte des Besitzes überwunden werden durch brüderliche Gleichheit und Freiheit. Man sucht deshalb Erziehungsgemeinschaften, die - für die Großen ebenso nötig wie für die Kleinsten - ohne Zwang und ohne Vergewaltigung das innerste Leben, die innerste Berufung und Bestimmung eines jeden für die Gemeinschaft und für den Dienst in der gesamten Menschheit erwecken. Mag es hier mehr eine geistige Arbeit des gemeinsamen Wanderns und Verkündens oder der gemeinsamen Herausgabe von Büchern und Schriften eben dieses Inhalts sein, mag es dort mehr eine Arbeit der Hände auf dem Acker und im Garten oder mit der Axt des Zimmermanns und mit der Kelle des Maurers sein, - das wesentliche ist, daß wirkliche Liebe nur dort gesehen werden kann, wo gemeinsame, harte, produktive Arbeit geleistet wird, und wo der verbindende Geist die Hemmnisse und Gradunterschiede, vor allem jede Form auch der geistigen Vergewaltigung überwindet. Man ist sich vollkommen darüber klar, daß auch hier kein Selbstzweck vorliegt, daß die Arbeitsgemeinschaft an sich nicht das erstrebenswerte Ziel ist, sondern daß es sich bei ihr nunmehr und immer wieder um dieselben Fragen handelt, wie bei dem Leben des Einzelnen im bürgerlichen Beruf der Großstadt. Es geht bei einer solchen Lebensgemeinschaft um denselben täglich erneuten Kampf, um dieselbe Befreiung vom Einzel-Ich oder Kollektivegoismus, um dasselbe Einsetzen für die Gesamtheit und für das kommende Gottesreich, wie bei jedem anderen Menschen und Christen.

"Die Weltbruderschaft in Christus", wie die Christliche Internationale von vielen ihrer Mitarbeiter am liebsten genannt wird, setzt sich in dieser Einsicht für eine Reihe praktischer Arbeitsleistungen ein, - nicht etwa in dem Wahn, daß durch eine winzig kleine Sandkornarbeit das kosmisch umfassende Gottesreich gemacht werden könne - aber in der Gewißheit, daß ein geheimnisvoller Zusammenhang zwischen der Treue im Kleinen und dem Kommen des Großen besteht.

In Nordfrankreich arbeitet unter der Führung und praktischen Mitarbeit des bisherigen Generalsekretärs der Christlichen Internationale, eines schweizerischen früheren Professors der Mathematik, eine kleine brüderliche Maurergemeinschaft an dem Wiederaufbau der verwüsteten Dörfer. Von ihren Eindrücken erzählt ein Brief in diesem Heft an anderer Stelle. Es ist diesen hart arbeitenden, unter den schwierigsten Verhältnissen leidenden Freunden aus England, Holland, der Schweiz, Ungarn und aus Deutschland gelungen, sich das Vertrauen ihrer Umgebung zu erwerben, obgleich aus Paris ein Einfluß eingesetzt hat, der hier das Schlimmste befürchtet: das französische Volk, das doch längst keinen Gottesglauben mehr hätte, solle hier seiner letzten religiösen Kraft, seines Patriotismus beraubt werden. Denn das stille Beispiel dieser Ausländer und "Feinde" sei die ärgste Gefahr, daß die patriotischen Energien aufgelöst würden,

- - -

da diese doch nur im Gegensatz zu den Feinden bestehen könnten. An dieser deutlich ausgesprochenen Befürchtung, die sich in einer feindseligen Propaganda gegen jene kleine Maurersiedlung auswirkt, erkennt man am besten den tatsächlichen Wert dieser Arbeit. Gleichzeitig entstehen in dem Geist und Sinn der internationalen Versöhnungsarbeit hin und her in den verschiedenen Ländern kleine Lebensgemeinschaften, die als Landsiedlungen, als Maurergenossenschaften, als pädagogische Erziehungsgemeinschaften freien Charakters oder als ähnliche Vereinigungen in voller sozialer und finanzieller Gleichstellung und religiöser Brüderlichkeit in Erscheinung treten.

Keine dieser Arbeiten könnte ihren Sinn darin erfüllt sehen, daß sie ihre geschlossene Eigenexistenz erkämpfte oder behauptete; keine dieser kleinen Unternehmungen glaubt, daß sie etwas Besseres darstellte als irgend eine andere treue Arbeit, die in Stadt und Land im Namen und im Geist desselben Jesus getan wird. Sondern es ist gerade das Wesen dieser kleinen Versöhnungsarbeit, daß jede einzelne Gruppe sich für das Ganze einsetzt, sich in gemeinsamer Schuldverhaftung mit allen anderen verknüpft weiß und sich in gemeinsamer Arbeit mit allen anderen verbunden fühlt, die irgendwie in der Liebe Jesu und in der gemeinschaftbildenden Kraft seines Geistes auf sein Reich warten. Die Tore dieser kleinen Kreise stehen noch weiter offen: sie wünschen sich jeden Morgen von neuem ein offenes Auge für all das entscheidende Erwachen in den ungezählten einzelnen und in den großen Bewegungen, die gegen die Ungerechtigkeit des Mammons, gegen die unreine Unwahrhaftigkeit der Gewalt aller Art ankämpfen. Sie spüren, daß in allen Menschen derselbe Gottessame in der Verborgenheit wirkt. Sie fühlen, daß derselbe Christus jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt. Sie möchten deshalb solidarisch mit allen Menschen leben, die den Durst nach Gerechtigkeit kennen und unter der Ungerechtigkeit der heutigen Zeit leiden.

Deshalb kommt es für die Christliche Internationale und gerade auch für die verschiedenartigen Kreise Deutschlands darauf an, daß unter keinen Umständen die Unterschiede in der Ausdrucksform und in der praktischen Betätigung zu ausschließenden Gegensätzen, zu Spaltungen oder zu Parteilichkeiten irgendwelcher Art führen. In Deutschland gibt es den Versöhnungsbund, der in der Arbeit Friedrich Siegmund-Schulzes und Otto Roths sowohl in Kirchenkreisen als auch in Arbeiterkreisen nach der Art der Sozialen Arbeitsgemeinschaft gewirkt hat. Es ist die Weltjugendliga entstanden, die in einem kleinen Kreis besonders unter Studenten das Friedenszeugnis dieses Geistes zu vertreten sucht. Es besteht der Religiöse Menschheitsbund, der besonders durch die Arbeit Rudolf Ottos ins Leben gerufen wurde, um zwischen den verschiedenartigen Religionen die Einheit desselben inneren Gemeinschaftswillens zum Bewußtsein zu bringen. Es bestehen verschiedene Jugendkreise und Siedlungsgemeinschaften, die in demselben Friedenswillen ein neues Leben

- - -

der Gemeinschaft in allen Dingen suchen. Es lebt unter den sozialistischen und kommunistischen Kreisen in Deutschland manche Gruppe, die in religiös-sozialem Sinne gegen Gewalt und Vergewaltigung für Frieden und Versöhnung, für Gemeinschaft und Einheit kämpft. Unsere Neuwerkarbeit hat unter diesen verschiedenen Bewegungen einen Dienst, der die verschiedenartigen Auswirkungen desselben Christusgeistes umfassen will. Es kommt alles darauf an, daß hier ein jeder durch den Christuswillen bestimmt und geleitet ist, - mag der eine mehr im bürgerlichen Berufe und innerhalb der Kirche für das Ziel der Gerechtigkeit und der Liebe leben, mögen die anderen mehr auf der Seite der revolutionären proletarischen Bewegungen im Geiste des Friedens für die Gerechtigkeit kämpfen, mögen die dritten in mühsamen Aufbau kleiner, kommunistischer Lebensgemeinschaften immer wieder einen neuen Anfang der neuen Freiheit und Einheit suchen, - uns alle treibt derselbe Wille und beseelt derselbe Geist. Es ist der Dienst des Christus, der die Menschen verbinden will und gegen alles das Protest erheben muß, was die Gemeinschaft der Menschen stört, hindert und vereitelt. Dieser Protest gegen die Ungerechtigkeit im heutigen Staats- und Wirtschaftsleben ist eine der wichtigsten Aufgaben, denen sich die Christliche Internationale wie unser Neues Werk zu unterziehen hat. Deshalb gilt es immer wieder, Botschaften in die Öffentlichkeit zu bringen, die in Erziehungsfragen, im Rasseproblem, im internationalen Antimilitarismus, im Kampf für die politischen Gefangenen und gegen die Versklavung der Völker, in der irischen, der indischen, der armenischen und der albanischen und nicht zum wenigsten in der deutschen und der österreichischen Frage ebenso entschieden die Wahrheit sagen, wie in den Gewissensforderungen des Sozialismus und Kommunismus.

Von Bedeutung war es bei den letzten Zusammenkünften in Bilthoven, daß auch von der katholischen Weiß-Kreuz-Bewegung, von der "Moka" in ihrer Weise dasselbe Zeugnis und dieselbe Lebensaufgabe betont wird. An anderer Stelle unseres Blattes ist eins der Flugblätter der "Moka" wiedergegeben, damit unsere Neuwerk-Kreise über diese verwandte Bewegung im Katholizismus unterrichtet werden .

Einer der wichtigsten Beschlüsse in der Bilthovener Sitzung war die Vorbereitung einer kleinen Zusammenkunft in Deutschland, in welcher Ende Juni Freunde aus den verschiedensten Gruppen zusammenkommen werden, um sich über die künftige gemeinsame Arbeit und über die Einzelaufgaben der besonderen Gruppen klar zu werden. Es wird sich hier für uns darum handeln, an unserem Teil dazu beizutragen, daß die verschiedenartigsten Bewegungen und Bestrebungen sich in dem Kampf um Frieden, Versöhnung, Gerechtigkeit und Liebe unterstützen. Durch volle gegenseitige Freiheit wird es möglich sein, all das aufwachende Leben, das von Christus her und auf Christus hin sich entfaltet, zu seiner Auswirkung gelangen zu lassen.